(I) Wankende Werte

Richtig gut oder schlecht falsch

Ein Essay – ritenuto

01-08-2020
 

Seit vielen Jahren belästigt mich das Gefühl, dass die Richtschnur des Handelns, unser Verständnis davon, was gut oder richtig ist, ins Wanken geraten ist. Wir bewerten etwas als gut, das dann einer Überprüfung nicht standhält. Wir wissen gar nicht mehr genau, was eigentlich gut ist (z.B.): Wachstum schafft Wohlstand UND Klimawandel. Unsere Vorstellungen sind mehrdeutig, ungenau. Im ersten Teil dieses Essays stelle ich Überlegungen zur inneren Dialektik von Wertvorstellungen an.

pd © - Lothar Meggendorfer on Wikimedia.com

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1. Die Brücke
Ich beginne mit einer ganz alten Geschichte, tiefes letztes Jahrhundert, verjährt … so kann ich sie erzählen: Michael* arbeitete damals bei der GTZ, heute ist die in der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit aufgegangen. Michael war oft und dauerhaft im Ausland, wir sahen uns selten. Einmal berichtete er beim dritten Bier und leise, unterhalb des Kneipenlärms, dass sein aktuelles Projekt unglaubliches Geld verschlänge, das man genauso gut gleich in den Mekong schmeissen könne. 

War es der Mekong? War es an der Grenze zwischen Laos und Kambodscha? Meine Erinnerung ist geografisch leicht verwischt, aber auf der übergeordneten Ebene, symbolisch sozusagen, ist sie intakt. Michael war als wirtschaftlich-organisatorischer Projektleiter dafür verantwortlich, eine Brücke über den … ¿Mekong? zu bauen, und zwar genau dort, wo der Fluss die Grenze markiert; es war ein so genanntes „Friedensprojekt“. Diese Brücke würde nun also gebaut, erzählt Michael, der längste Baufortschritt habe einmal 4 Monate angedauert, doch immer wieder kämen des Nachts (¿)Rote Khmer(?) und sprengten den Baufortschritt; das ginge jetzt schon seit Jahren so. 

„Nee, ne? Und warum macht Ihr son Scheiss – also … Warum hört Ihr nicht auf?“ Ich ungläubig, Michael verteidigte das Projekt!

„Also besser, die Kohle schwimmt den Mekong runter.“

Er tue alles, das Projekt fortzusetzen, und das habe mehrere Ebenen, die politische erstens. Irgendwelche Grosskopferten hätten irgendwelche Verträge geschlossen, und da wolle keiner sein Gesicht verlieren. Zweitens waren deshalb Gelder budgetiert worden, und die müssten nun auch verbraucht werden – sonst würden sie verfallen, was wiederum Fragen nach der Professionalität und Projektfähigkeit der GTZ aufkommen liesse. Vor allem aber drittens, nach seiner Erfahrung, sei es besser, sie würden dieses Projekt voran treiben, als irgendein anderes, denn hier seien Verlauf und Schaden klar prognostizierbar: Tote oder Verletzte habe es nie gegeben. Anders als – Beispiel – in Burkina Faso. Dort habe er einmal ein Bewässerungsprojekt betreut und erfolgreich zum Abschluss gebracht. Doch nachfolgende kriegerische Auseinandersetzungen um die Brunnen hätten in über 10 Jahre Hunderte von Menschenleben gekostet. Schliesslich seien die Brunnen in Betrieb genommen worden, doch habe es keine sechs Monate gedauert, bis es zu ersten Schäden kam, Pumpenausfälle, Rohrbrüche, …usw; dann hätte entweder Know how gefehlt oder Ersatzteile oder beides, und die GTZ sei nicht mehr zuständig gewesen. Inzwischen sei die Technik halb oder ganz demontiert und die Brunnen zumeist wieder verschüttet. … 
In der GTZ sei man schon froh, wenn die Projekte keinen grösseren Schaden anrichteten; immerhin habe die Entwicklungshilfe über Jahrzehnte korrupte Eliten und  Alimentierungsansprüche erzeugt oder gar, wie in Burkina Faso, kriegerische Auseinandersetzungen. „Also besser, die Kohle schwimmt den Mekong runter.“

2. Der Vorgarten
Genau besehen ist Entwicklungshilfe ein Kind der Nachkriegszeit und hatte urspünglich zum Ziel – in Fortschreibung der Ziele des Marshallplans – insbesondere Europa wieder aufzubauen. Bis 1961 schien das zumindest soweit geglückt, dass die zuvor zuständige OEEC sich als OECD neu ausrichtete.

Ich wünsche Ihnen eine gute Entwicklung – da unten“ 
[Heinrich Lübcke]

Noch in deren Convention on the Organisation for Economic Co-operation and Development ist nachzulesen, dass die von ihr zu befördernde Wohlfahrt sich vor allem auf ihre (zumeist europäischen) Mitglieder ausrichtet. Beinahe schon unter ferner heisst es dort dann auch: „IN DER ÜBERZEUGUNG, daß die wirtschaftlich weiter fortgeschrittenen Nationen zusammenarbeiten sollten, um die Länder, die sich im Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung befinden, nach besten Kräften zu unterstützen; …“ 

In einer historisch-kritischen Würdigung der OECD würde man vermutlich aber doch nicht umhinkommen, die so skizzierte Unterstützung als eine Obermenge von Massnahmen zu charakterisieren, die den Zugang zu industriellen Rohstoffen aufrecht erhalten und, wenn es denn gut geht, zugleich neue Absatzmärkte schaffen sollen. Dies EntwicklungsHILFE zu nennen entsprach dem damaligen Verständnis von Marketing und diente der Verklärung der strategischen Interessen, die dem westlichen Paternalismus die unterwürfige Dankbarkeit der armen Neger sichern sollte. Noch 2009 konnte man als zuständiger Minister öffentlich die Meinung vertreten, der 100 mal grössere Kontinent sei der eigene Vorgarten.

„Es ist in unserem Interesse, in unserem eigenen Vorgarten, in Afrika, dafür zu sorgen, dass Menschen keine Fluchtgründe geliefert bekommen."  [Dirk Niebel am 10.09.2009]

Die inzwischen durchaus aufgeklärtere Sicht auf die nunmehr als „Entwicklungszusammenarbeit“ etikettierte Politik legt offen, dass es sich dabei um kühle Interessenvertretung handelt, zugleich ändert sie aber nichts an dem eurozentristisch-wohltätigen und kämpferisch-philantropischen Selbstverständnis der zuständigen Politiker [sehr anschaulich dazu Gerd Müller, CSU, insbesondere ab 08:20]. 

3. „Gut gemeint“
Gibt es ein böseres Urteil? „Hat sich stets bemüht …“ Fehlt nur noch, dass Dir jemand bei den Worten jovial die Schulter beklopft: „Is ja gut gemeint, aber …“ – stechender, bissiger, schneidender kann man ein Tun kaum abkanzeln. Ich nähere mich dieser Gemeinheit einmal mit dem Sezierbesteck: 

  • Nachher ist man schlauer, das ist schon mal Punkt eins. 
  • Mit so einem Urteil, zweitens, bleibt von der Tat nichts, nicht der Entschluss, nicht das Beginnen, nicht die Tat selbst, die schon gar nicht, alles Null und nichtig; und das Ergebnis, phhh – vergiss es! So ein lächelndes gut gemeint ver/nichtig/t die Tat.
  • Drittens bekommt der Täter sein Fett weg: lächerlich, der! Unfähig, das Richtige zu tun. 
  • Und wenn das noch nicht reicht, viertens, auch der Vorsatz bleibt nicht unbeschadet: Hätt’ste mal besser nachgedacht …, sogar das Gute des Wollens war falsch. Die Demütigung ist komplett. 

Was auch immer es ist: war es nur gut gemeint, hätte es schlimmer kaum kommen können. Wie kam ich drauf?

Mir war etwas, wie soll ich sagen, untergekommen, ein Widerspruch, fast unbemerkt. So ein Wimpernschlag Irritation, eine cognitive Dissonanz, nicht drüber nachgedacht, unter Irrtum verbucht, nächster Tag. Es war, wie soll ich es sagen, eine irgendwie befremdliche Umkehrung oder Verdrehung: das, was ich zuvor unter gut und richtig verstanden hatte, erschien falsch oder .. war regelrecht falsch. Einmal erkannt, identifizierte ich diese Störung als solche bereits von Ferne, und mir fiel noch eine andere Seltsamkeit auf: nämlich dass das falsche Gute gut blieb, also: es behielt seinen angestammten Platz auf der Bewertungsskala. Etwas war schief gegangen, das Gute blieb. Statt gut gemeint – das Gegenteil: Falsch!, aber … gut

Das kommt jetzt natürlich nicht ohne Beispiele aus. 

4. Charity 
In jüngster Zeit geriet Bill Gates mit seiner Stiftung in schweres Verschwörungsgewitter; eine bizarre, absurde Diskussion. Sie ist umso ärgerlicher, als es an der Stiftung auch eine abgeklärte und begründbare Kritik gibt, die in der Wirbelschleppe dieser quarkologischen Auseinandersetzung gleichfalls delegitimiert erscheint. 

In der Bill & Melinda Gates Foundation versammeln ihre Gründer mehr oder weniger ihr ganzes Vermögen und tun Gutes so gut, dass auch Warren Buffet sein Vermögen versprach; nicht auszuschliessen, dass andere folgen. Die Stiftung beschäftigt knapp 1.400 Mitarbeiter – allein das zeigt, dass es keine ganz einfache Aufgabe ist, die gewaltigen Geldströme einigermassen sinnstiftend einzusetzen: „sie [die Stiftung] steckte bisher fast 50 Milliarden Dollar in Gesundheits- und Entwicklungsprojekte in mehr als 130 Ländern. … Fast 100 Milliarden Dollar hat er [Gates] noch“. Sicher ist es auch nicht ganz einfach, so grosse Mittel zu administrieren, ohne dabei in gleichsam kontaminiertem Gelände zu operieren. Es gibt deswegen Kritik an der Stiftung; man kann das nachlesen. Beispielsweise wird der Stiftung vorgeworfen,

  • ihr Kapital zwischenzeitlich bei den schmutzigstens Konzernen zu parken (genannt werden ExxonMobile, Glencore, Rio Tinto u.a.) oder, anderer Vorwurf,
  • Programme/Produkte von Unternehmen zu empfehlen, in deren Aktien das Stiftungsvermögen stecke.

Ich will das im Einzelnen nicht untersuchen – auch wenn Teile dieser Kritik in mein Thema auskragen. Es klingt sehr falsch und könnte sich überdies als korrupt erweisen.

Es … könnte immerhin auch bedeuten,

  • dass die Stiftung dort ihr Kapital anlegt, wo sie Einfluss nehmen will,
  • oder sich besondere Beiträge für ihre Stiftungsziele erwartet oder diese induzieren will, um dann – als namhafter shareholder –  auch qualifizierten Zugang zu erhalten.

Right or wrong, … diese Facetten möglicher Falschheit stehen nicht im Zentrum meiner Überlegungen; wäre dem, wie die Kritiker sagen, es wäre ja an dem Guten kaum Gutes; es wären sozusagen FakeGoods. Mir geht es vielmehr um den komplizierteren Fall, wenn das Gute selbst das Falsche ist. So zum Beispiel,

„zum Ziel [hat], bis 2020 die Ernährungsunsicherheit um 50 % in 20 Ländern zu reduzieren, die Einkommen von 20 Millionen Kleinbauern zu verdoppeln, und 15 Ländern eine Grüne Revolution zu ermöglichen, die Kleinbauern unterstützt, die Umwelt schützt, und die Anpassung an den Klimawandel erleichtert.“

Du meinst: Die Menschen sollen also krepieren? Wilst Du das damit sagen? Sicher nicht! Ich wünsche niemandem diese heimtückische Krankheiten und natürlich ist es gut, jenen zu helfen, die davon betroffen sind. Und hungern soll auch niemand!
Die Sache mit der Mekongbrücke – OK; was aber, bitte, könnte hier falsch sein? 

Platt gesagt: es ist der ganze Ansatz, angefangen mit der Bekämpfung von Symptomen und nicht geendet mit dem privaten Handeln ohne Mandat! Ja, mehr noch: es ist das amerkanische Verständnis, ein Problem vorwärts beseitigen zu wollen, anstatt an den Ursachen anzugreifen. Die B&MG-Stiftung zielt mit all ihrer Macht darauf, Krankheiten zu heilen, Ernährung zu verbessern, etc.. »Doch am Herzen liege ihm vor allem eines, fügt Gates hinzu: „Dafür zu sorgen, dass keine Kinder mehr sterben.“« In ihrem Jahresbrief 2018 schreiben sie: „When more children live past the age of 5, and when mothers can decide if and when to have children, population sizes don’t go up. They go down. Parents have fewer children when they’re confident those children will survive into adulthood.“
Das sind gute Ziele, oder! Es kommt uns gar nicht erst in den Sinn, dass sie eine zutiefst anti-politische, reaktionäre Politik verkörpern könnten.

Diejenigen Menschen zu versorgen, die da sind, ist geboten und die Aufgabe der jeweiligen Staaten, notfalls von UN-Organisationen – und natürlich soll das geschehen! Eine private Stiftung aber ist nicht die Vertretung des oder einiger Staaten und sollte auch nicht so tun als ob; sie könnte, sollte, müsste (meine ich), sich mit grundlegenderen Fragen, aber vor allem mit Ursachen beschäftigen. Und wenn man ein Problem zu lösen trachtet, in dem man ein anderes Problem verschärft, so muss man sich schon ein paar Fragen nach dem Ansatz stellen (lassen).

In ihrem Buch „Unsere Welt neu denken“ sagt es Maja Göpel (sinnerhaltend eingekürzt) so:
„Aber während eine Regierung von der Opposition, den Gerichten oder den Wählern kontrolliert wird, legt die Stiftung von Bill Gates selbst fest, für wen sie sich wie engagiert und mit wem … Dass sie … Chemiekonzernen wie Monsanto oder globalen Getreide-Großhändlern wie Cargill den Weg in die Märkte in Afrika ebnet und teilweise auch Aktien an Firmen wie Monsanto oder McDonald’s hielt oder hält, bleibt damit ihre Sache.
Der amerikanische Journalist Anand Giridharadas hat … untersucht, wie sich diese Form der Philanthropie als eine Art Ablasshandel etabliert hat, der wirkliche Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen, der Verteilung von Wohlstand oder der eigenen Beteiligungsprivilegien eben gerade nicht herbeiführen will.“ [S.169]

Und würde die Stiftung überhaupt die Ziele erreichen, die sie vorgibt? Die Analyse – dass verbesserte Kindergesundheit und verminderte Sterblichkeit langfristig zur Reduktion der Bevölkerungsentwicklung beitragen – mag ja stimmen, aber – … erreicht den Hof mit Müh und Not … – der erhoffte Rückgang könnte viel zu spät einsetzen. Denn das dauert: In Nigeria beispielsweise setzt der Rückgang der Geburtenraten etwa 1980 ein und hat sich bis ca. 2015 von 7,0 auf 5,2 entwickelt. Stand heute: Die Bevölkerung von Afrika verdoppelt sich in den nächsten 30 Jahren auf 2,5 Milliarden Menschen!

Kritisch ist es schliesslich auch, wenn sich die Stiftung strukturell einmischt und – beispielsweise – namhafte Beiträge zur Finanzierung der WHO leistet (seit 2000 sind es etwa 2,4 Mrd $, zit. n. Andreas Mink aus der NZZaS vom 2.5.2020); auch das ein vielschichtiges Problem! De facto ist die WHO der Reparaturbetrieb eines falschen globalen Systems, aber: was ist Ursache und was Wirkung? Die Organisation verliert kontinuierlich an Unabhängigkeit, WEIL die USA 1993 das Einfrieren der Pflichtbeiträge durchgesetzt haben (und inzwischen sogar ausgetreten sind). Nach dieser faktischen Kürzung ist die WHO zunehmend abhängig von wohltätigen Spenden; inzwischen stellen die 80% des Budgets. Diese Spenden sind überwiegend zweckgebunden und untergraben damit die Handlungsoptionen der WHO. 

„Wenn Bill Gates morgen sagt: Ich habe kein Interesse mehr an Gesundheit, ich investiere mein ganzes Geld in Erziehungsfragen, zum Beispiel, wäre die WHO am Ende“, sagt der indische Arzt und Gesundheitsaktivist Amit Sengupta aus Neu Delhi. „Er könnte es machen. Niemand könnte ihn daran hindern.“

Am Ende dieser Besichtigung erweist sich der amerikanische Begriff von Wohltätigkeit als falsch, verlogen, willkürlich und anti-politisch. Dieses selbstzufriedene „der Welt, die so gut zu mir war, etwas zurückzugeben“ hat selten einen anderen Antrieb, als sich von den zynisch einkalkulierten, zumindest aber dumpf geahnten Sünden der eigenen Lebensleistung reinzuwaschen. Und obwohl das (hier zugegeben pauschal und grobschlächtig zusammengefasste) Geschehen jedem ins Auge springt, springen müsste, ändert es nichts an der (öffentlichen) Bewertung der Charity als gut. Bill Gates, ein freundlicher älterer Herr, der immer öfter mal etwas Kluges sagt, wird gern gefragt und gern gehört und manifestiert als Wohltäter der Menschheit milde lächelnd seine … tja, immer noch kapitalen und paternalistischen Machtansprüche. Seien wir gerecht: es gibt durchaus Schlimmeres.
Genügt das? Ist es schon deshalb auch gut

5. Rituale
Jetzt wird es noch schwieriger, und ich bin mir der Risiken bewusst, wenn ich den rituellen Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus beklage. Ich war und bin – politisch – Antifaschist und trage – historisch – an der Schuld, die ihre nationalsozialistischen Verbrechen den Deutschen „bis in die siebente Generation“ aufgebürdet haben. Nur ist es bereits Teil des Problems, dass ich mich zunächst bekennen muss, bevor ich sagen kann was ich meine. Denn der Umgang mit deutscher Schuld ist in Deutschland nahezu undiskutierbar. Natürlich hat das auch gute Gründe: In jedem Ansatz lauert eine Relativierung. Die Schande sind die Taten, nicht das Denkmal, … während Menschen sich in abgründigen Rechtfertigungen ergehen, deren ethische und intellektuelle Kapazitäten von einem Fliegenschiss kaum zu unterscheiden sind. 

Doch selbst dort, wo Deutsche „es nicht mehr hören können“, wissen sie um ihre historische Schuld. Die Deutschen, und für ihre Eltern wenigstens die Nachgeborenen, haben ihre Schuld eingestanden und angenommen, auch im Angesicht der Unermesslichkeit der Verbrechen. Die kollektive, nationale Annahme und Aufarbeitung der deutschen Schuld ist, soweit meine Kenntnisse reichen, eine Ausnahme in der Welt. Das ist gut, und wenngleich die meisten Verbrechen der Vergangenheit in allen Regionen der Weltgeschichte verdrängt, wo nicht geleugnet werden: es ist, weil eigentlich selbstverständlich, noch nicht mal ein Verdienst!

Falsch dagegen ist, dass das Bekenntnis zum rituellen Geplapper verkommen ist und die Erschütterung über Schuld und Erbschuld zum täglichen Feuilleton verwässert. Der Fahnenappell der deutschen Schuld, die Verbrechen heute täglich auf’s Neue zu bekennen, geschieht nur mehr aus „institutionalisierter“ Scham und Busse –, er ritualisiert das Bekenntnis, entwertet und vernichtet es. In dem (überwiegend bloss noch professionellen, routinierten, einem Programmauftrag geschuldeten) Bemühen, die Erinnerung wach zu halten, wird sie in der Überbelichtung unsichtbar, wird die Busse zum blossen Bussgewand. Die stete Wiederholung produziert nicht nur eine moralische Indolenz, in einem verqueren Kollateralschaden ist sie überdies zu einem Baustein der Leugnung und Relativierung geworden. 

Falsch ist aber auch die Verschränkung der deutschen Schuld an den Juden mit dem Verhalten Deutschlands gegenüber dem Staat Israel. Da verläuft eine verschwommene Linie diesseits derer es natürlich eine Verbindung deutscher Verbrechen mit der Gründung des jüdischen Staates gibt, jenseits derer es aber auch ein grundlegendes Unrecht gegenüber den Palästinensern gibt. Der Anspruch Israels auf sein Territorium ist historisch ungefähr so begründbar wie Reperationsforderungen Deutschlands wegen erlittener Kriegsschäden unter Caesar. 

Und nicht zuletzt entleert der Rosenkranz der Schuld den Begriff der Verantwortung. In den 75 Jahren seit der Befreiung vom Faschismus sind wenigsten drei Generationen gewachsen, die persönlich keine Schuld trifft, und denen - eingekeilt zwischen den Fragen „Wie lange noch?“ und „What about“ – das Verständnis von Verantwortung in die Floskeln entgleitet. Umso mehr, wenn irgendwann der Verdacht aufkommt, dass es bloss noch um Formen der Umverteilung geht, weil immer unschärfer wird, wie eigentlich historische Schuld sich materialisiert: die Monetarisierung jedenfalls gerät zu einem immerwährenden Ablasshandel – und der wird von jenen propagiert, die um die ehtisch-moralische Leere der rituellen Busse wissen. 
 

***

6. Kipp-Punkte
Drei Beispiele: eine provozierende, auch eskalierende Auswahl. Während der Irrwitz der „Entwicklungshilfe“ unmittelbar evident ist, müssen wir schon einen Augenblick nachdenken, ob wir die Aussagen zur Gates-Stiftung akzeptieren. Regelrecht steinern wird unser Unbehagen beim Thema Nationalsozialismus. Was in den drei Fällen zum Ausdruck kommt, rührt an unser Wertegerüst. Aber so, wie wir uns auf eine christlich-abendländische Tradition berufen, ohne noch spontan sagen zu können, was, ausser Feiertagen, denn der christliche und was der abendländische Gehalt dieser Traditionen ist, so wüssten wir vermutlich auch nicht exakt zu beantworten, womit sich die affektive Abwehr gegen die Aussagen der Beispiele begründet. Ohne eine Erklärung akzeptieren wir sie erst mal nicht, zumindest verspüren wir einen erheblichen Widerwillen.  

Auf der obersten Ebene entsteht dieser Widerspruch, wo wir uns der Einsicht verweigern, dass das Gemeinte entweder sein gutes Ziel nicht erreicht oder gar in der Wirkung ins Gegenteil der Zielsetzung tendiert. Wenn wir dieses Gemeinte als einen Vektor ansehen, so ist sein energetischer Impuls bereits von dem ideologischen Gehalt kontaminiert, den er transportiert – und noch dann, wenn ein Schaden offensichtlich wird, weigern wir uns, die „gute“ Intention im Lichte ihrer Wirkung zu hinterfragen. 
Es ist ein komplexes Geschehen, wenn das Gute kippt. Treiber dieses Umkippens finden sich im Guten selbst, in seiner Ausführung, in den Tätern wie auch in Opfern des Guten

Meine erste These ist, dass die Verfälschung des Guten mit seiner Institutionalisierung korreliert; noch ist unklar, ob die Korrelation eine Kausalität in sich trägt. Zu untersuchen, wo genau die Institutionalisierung historisch erstmals ihr Unheil anrichtet, führte sicher zu weit. Mir fällt als ein relativ gut abgehangenes Beispiel die Arbeiterbewegung ein, deren Vergewerkschaftung und Sozialdemokratisierung gleichermassen als Enteignung und Empowerment stattfand: nämlich in der Überführung von kollektiver Energie in das Institut eines  Mandates. Dem Mandat Willkür zu nehmen, es rückzubinden, war mal eine Errungenschaft. Doch all die Satzungen und Manifeste, all die Pöstchen und Opportunitäten, all die Regeln und  Sprachregelungen ordnen den anarchisch-unsoliden, strassen-demokratischen Impuls – und auf dem Weg von der Barrikade zum satisfaktionsfähigen Sozialpartner sortiert sich der Widerstand schliesslich in das System. Knapp 100 Jahre später bleiben vom einst revolutionären Impetus noch ein paar Pflichtreden am 1. Mai vor einem herangekarrten Teich, Tümpel von blassroten Fahnen und Trillerpfeifen (ein Meer von Fahnen ist es lange nicht mehr) – und vom ganzen Klassenkampf bleiben nur die Nachsitzungen der „Tarifpartner“.  

Oder – eine andere, aber durchaus ähnliche Baustelle – in grünem Parteiengezänk, Rotationsprinzip, Anträgen zur GO und politischer Richtigkeit. A propos: geradezu paradigmatisch steht die political correctness für ein Geschehen jenseits des tipping points. Was einmal als ein OberlehrerInnen-freundlicher Nudge begann, der auf unachtsame Widersprüche im eigenen Reden und Tun hinwies, hat sich zu dogmatischen Sprech-Haltungen entwickelt, die längst nichts mehr von dem erreichen, was sie einfordern, aber über Wohl und Wehe sozialer Akzeptanz entscheiden. Das Falsche an der pc ist ja nicht – wie die AfD und ihre Rechtsausleger es gerne vereinnahmen möchten – der (jeweils) adressierte Gegenstand (… nur gelegentlich auch der), sondern das rituelle, kaum mehr reflektierte Verfahren, diesen zu vertreten. 

7. Ist das Gute gut? Für wen welches?
Meine zweite These: die Dialektik fehlt; das ist ein grundsätzlicher Mangel. Wie es dazu kam, wäre der Untersuchung wert: ich glaube, dass es mit dem Zustand der akademischen Ausbildung zu tun hat. Hier und jetzt aber führt das zu weit, ich will bei der Sache bleiben.

Ich habe es bisher vermieden, das Gute am Guten zu definieren. Mit guten Gründen, denn auch das ist ein weites Feld. Was genau soll das sein? So viele Umstände, so viele Bedingtheiten, so viele Kulturen … die Frage irritiert. Ich muss sie ansprechen, doch kann ich sie gar nicht beantworten. Ganze Bibliotheken haben nicht gereicht. Hilfsweise schiebe ich hier ein paar Merkpunkte von meinem Notizblock dazwischen, um nur anzudeuten, mit welchen Schwierigkeiten die Frage einher geht:

  • The Unfair Advantage
    Im Jahr 2005 habe ich während einer Reise durch die USA an einer Konferenz der American Business Media Association teilgenommen (die es seit 2013 nicht mehr gibt). Während dieser Konferenz kamen verschiedene Keynote-Speaker zu Wort, darunter Michael Reilly, seinerzeit CEO und President eines Verlages mit rund 70 Mio$ Jahresumsatz. Wäre ich ein native speaker, ich hätte die Reden vermutlich nicht mitgeschnitten; so aber, und auch in der Erwartung, dass vielleicht etwas in Europa Verwertbares darunter wäre, verfüge ich über ein Tondokument mit folgender Aussage: 
    I’m looking for the unfair advantage – I will hurt nobody, I will do no harm to anybody. But: when I play golf, I tell my partners: You know: I won’t cheat, but I’ll got to tell you: keep looking at me, count my strokes, because I won’t do it. I’m looking for an unfair advantage.“
     
  • „Die denkt wohl, sie ist im Urlaub”
    Tobias* lebt heute in der Nähe von Chicago und schreibt mir:
    »Heute telefonierte ich mit Mike. Er erzählt mir, dass die Frau von unserem gemeinsamen Freund Jimmy bei Sony gefeuert wurde: „goddamn Chinese companies!" Ich unterbrach ihn: „japanisch.” „Genau”, sagte er und redet weiter. Es sei mal wieder typisch, dass die USA Vorreiter im Arbeitnehmerschutz sind und diese ganzen anderen Länder wirklich keine Ahnung davon haben. „Naja. Die Formen der „Sklaverei“ in den USA sind aber kaum von denen in China zu unterscheiden“, hatte ich ihm erwidert. Sein Gegenbeispiel: „Wieso, ich habe Mary gestern nicht gefeuert, obwohl sie nicht ins Büro kommen wollte!“ … wegen der Corona-Schliessung hatte Mike die Mary nach Hause geschickt, unbezahlt natürlich, und jetzt erwartete er, dass sie springt, wenn er sie braucht: „Die denkt wohl, sie ist im Urlaub”.«
    Eine Mail später schreibt Tobias:
    »Jetzt hat es Mike, Du erinnerst Dich, geschafft, sich eine viertel Million zu sichern, die er nicht zurückzahlen muss, solange er alle vorherigen Mitarbeiter wieder aufnimmt. D.h. der Steuerzahler hat den Mitarbeitern jetzt nicht nur das (winzige) Arbeitslosengeld gezahlt, sondern dem Unternehmer auch noch $250k geschenkt, dafür, dass er die Leute wieder nimmt, die er sowieso wieder genommen hätte, weil er sie ja braucht.«

Nun bin ich gelernter Mitteleuropäer, und es sind eher zufällige Beispiele, ich frage mich aber, auf welchen fundamentalen gemeinsamen Werten, eigentlich, unsere transatlantische Partner-Freundschaft ruht – in den aktuellen HBO- oder Netflix-Serien wurde ich nicht fündig. Diese Zweifel an der Vergleichbarkeit und Gültigkeit von Werten und Anschauungen weisen keine deutsch-amerikanische Alleinstellung auf.

  • Fuck you
    Markus* ist ein netter Nachbar, der mir bei einer handwerklichen Tätigkeit freundlich, zuverlässig und grosszügig geholfen hat. Er wohnt zwar nicht unmittelbar „nebenan“, auch unsere Leben sind wie in verschiedenen Universen. Immerhin, bei der Arbeit haben wir uns ein wenig kennengelernt. Auch jenseits der formalen Höflichkeit des Fremdseins: wir waren sehr gut miteinander zurecht gekommen. Ein paar Wochen später klebte ein „Fuck you, Greta“-Aufkleber auf seinem Auto.

Alles nette Leute: aber wie könnte ich diese sympathischen Zeitgenossen in meine Vorstellungen von gut und schlecht eingemeinden?!

Wie kann ich überhaupt annehmen, dass wir in unserer Gesellschaft auf dem Boden einer gemeinsamen „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ leben und unsere Werturteile aus einer kohärenten und konsistenten Logik heraus fällen? Wer immer das Wort ergreift, tut das in der Überzeugung, dass die Leitplanken des „Wahren, Schönen, Guten“ verlegt wären: als wohlerzogene Mitglieder unserer Peergroup glauben wir (jetzt im Sinne von: jedes wir, von dem ich ein Teil bin), dass das, was wir für gut und richtig befinden, logisch ist, objektiv klar und für jeden einsichtig. Überraschung: das ist nicht der Fall. Mit Mr. Reilly, Mike oder meinem Nachbarn Markus könnte ich mich jedenfalls nicht auf das Schöne, Wahre, Gute einigen. Die Frage dahinter ist aber die fundamentale Frage an jede Gemeinschaft: was gilt? Nach welchem Recht, nach welchem Kriterium entscheide ich darüber, was gut und richtig ist? 
Wir ahnen natürlich, dass dahinter auch eine Machtfrage lauert.

Was also das Gute ist, lasse ich dahingestellt; ich glaube jedoch, die Diagnose trifft wohin man schaut: Das Gute besteht die Nagelprobe nicht, egal, welche Perspektive man einnimmt. Wir einigen uns vielleicht auf eine Idee, doch die Realität kompromittiert alles; nehmen wir das Staatsziel, zum Beispiel: Früher stellte der Sozialismus eine Perspektive von Freiheit und Gerechtigeit. Die Schäden, die der reale Sozialismus der Idee zufügte, das alles füllt Regalmeter. Nun könnte man – Fukuyama im Hinterkopf –, versucht sein, den Spiess umzudrehen, das Kapital bändigen und mit der sozialen Markt- und deutschen Bundeswirtschaft einem Muster der Gut-Staatlichkeit huldigen. Die Skandale der Republik, vom Lockheed-Skandal bis zu Philipp Amthor, vom Verfassungsschutzes bis zur Crypto AG, von der Abwrackprämie bis zu den Kohlesubventionen – würden uns rasch auch den Zahn ziehen. Alles, was der Staat in der Coronakrise richtig gemacht hat, war von einem weitgehenden, affirmativen Verzicht auf eben jenen Wertekanon geprägt, den „wir“ als Öffentlichkeit seit Jahrzehnten pflegen; fast möchte man sagen: es war ein autokratischer Erfolg.  

8. Es geht ja um’s Grundsätzliche
Nimmst Du eine beliebige Idee, die Du für gut befinden möchtest, und schaust danach, ob und wie sie Wirklichkeit wird, so bleibt sie im gut gemeint stecken – oder sie korrumpiert an ihrem Erfolg. Was – jenseits der Fiktion – hätte je funktioniert? 
Und eine Schraubendrehung geht es womöglich sogar um die Auflösung der Werte selbst. So etwas Ähnliches erleben wir; unklar ist das Ausmass. 

  • Wir sind überzeugt, dass die gesellschaftliche Wohlfahrt, unser Wohlbefinden, auf genau der Wirtschaft fusst, die wir veranstalten (Wachstum, Dynamik, Innovation …); zugleich und zunehmend bedrohlich sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass eben diese Wirtschaft die Grundlagen unseres Lebens zerstört. 
  • Wir erachten die Freiheit als unser höchstes Gut; dann aber stellen wir fest, dass eben diese Freiheit jenes Verhaltens- und Denkungsformen erlaubt, die die Freiheit aushöhlen, wenn nicht gar zerstören. 
  • Wir sind mit ganzem Herzen liberal; doch müssen wir uns eingestehen, dass die „Gleich//gültigkeit von allem“ uns an den notwendigen Entscheidungen hindert, die Bedrohungen unserer Lebenswelt abzuwenden. 
  • Wir achten und ehren den Kompromiss als eine Konzession an die Verschiedenheit; und sehen doch, wie eine endlose Kette fauler Kompromisse uns in die falsche Richtung treibt. 
  • … 

Wenn ich einerseits feststelle, dass das Gute und das Schlechte in einer dialektischen Betrachtung an Eindeutigkeitkeit verlieren, muss ich andererseits über die Alternative nachdenken, ob das eine Bewertung grundsätzlich unmöglich macht? Oder würde es doch–noch genügen, das Wertgerüst zu ändern, radikal, zur Not? Das, meine dritte These, lässt sich nicht entscheiden, wenigstens noch nicht; vielleicht, wenn es gut geht, komme ich am Ende zu einem Ergebnis.​
 

***

Michael Werz sagt, dass es in den USA von 2020 an kein einheitliches Verständnis von Wahrheit und Fakten mehr gebe. "Wir befinden uns in einer neuen Zeitrechnung der digitalen Demagogie. Terra incognita."  [Klaus Brinkbäumer auf ZEITonline]

Dieses mal deutliche, mal pastos-ungreifbare Geschehen verweist auf tiefere Verluste, sie betreffen die Parameter, die Legitimität. Das anything goes, diese Gleich//gültigkeit, hat schwerwiegende Folgen: Denn erst in Abwesenheit einer gültigen Richtschnur sind Fake News unbestreitbar, wenn nicht bereits unantastbar geworden. Was sagt es über die Werte und das Land, wenn dessen Präsident in 20.000 Behauptungen gelogen hat oder irreführend redet (The Guardian)? Die Grenzbefestigungen zwischen Wahr und Falsch und Gut und Schlecht erscheinen weitgehend aufgelöst. Die dunkle Seite der Information durchzieht die sozialen Medien, und von allem, was einmal unter der Flagge der Aufklärung segelte, bleibt nur noch ein „Flottieren der Verhältnisse“.  Als hätte Jean Baudrillard einen letzten Sieg davon getragen. Denn jetzt

ist alles Teil von jener Kraft, 
die dieses will und jenes schafft.  

Schulterzuckend fassen wir zusammen, dass „wir mit unseren Widersprüchen leben sollen“, und dass es kein richtiges Leben im falschen geben könne.