Vorher ist man dümmer

Das Rational richtet sich gegen seine Intention

Essay

10-11-2016
 

Vor dem Ergebnis der US-Wahlen haben mich zwei Sachverhalte des Vor- und des Wahlkampfes besonders in Anspruch genommen, und zwar die Rolle der Umfragen und die der US-Medien.

2012/2016 money raised and spent

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Eins: Die Umfragen

Ich kenne noch keine Hintergrundinformationen oder Analysen zu den Umfragen, pflege aber eine gewisse Voreingenommenheit: denn Umfragen spiegeln die Auskunftsbereitschaft des Publikums. Wenn, wie ich es interpretiere, die Wahl Donald Trumps eine Abwahl „des Systems“ ist, so liegen die Umfragen deswegen so daneben, weil sie Teil des Systems sind. Nach dem Motto „Bullshit in, Bullshit out“, liegt nunmehr offen zu Tage, dass die Meinungsforscher

  • die falschen Fragen gestellt haben,
  • die falschen Leute befragt haben,
  • die falschen Antworten bekommen haben;
  • oder, und das ist das Wahrscheinlichste, eine Mischung aus allen drei Möglichkeiten.

Nicht das erste Mal, dass das geschieht. Jetzt, so vermutete man auf CBS, würden wohl einige Köpfe rollen.
Wie ungerecht. 

  1. Ich selbst habe, schuldlos! - auf Ehre und Gewissen, öfter mal an einer Umfrage teilgenommen. Dabei ist mir immer wieder aufgefallen, dass die Meinungsforscher vor allem am Grauton der Antworten scheitern. Es ist wie vor Gericht, wenn der Staatsanwalt sagt: „Bitte antworten Sie mit ‚Ja oder Nein‘ “; die wenigsten Sachverhalte halten sich an diesen Wunsch! Die Meinungsforscher versuchen es mit Schattierungen „stimme voll zu, stimme etwas zu – aber: das Warum?! bleibt aussen vor. Wer seine Frage so stellt, dass statistisch verwertbare Daten herauskommen, ist, um echte Antworten im Sinne der Umfrageziele zu bekommen, auf sehr wohlwollende Befragte angewiesen, die ihre Antworten dem Frageschema nachfürhen, anpassen und unterwerfen. 
  2. Die Statistiker sind der Meinung, dass ihre Umfragen repräsentativ sind. Immerhin haben sie Jahrzehnte-lange Forschungen in die Auswahlverfahren gesteckt. Nun habe ich allerdings, lang genug, auch mal bei einem Meinungsforschungsunternehmen gearbeitet und dabei gelernt, dass die Befrager die Kriterien der Repräsentation so genau kennen, dass sie ihre eigene Zielerreichung nicht von der zufälligen Pass/un/genauigkeit des befragten Publikums abhängig machen wollen. Denn das Umfragewesen ist ein mühsames Geschäft, die Leute haben keine Zeit, keine Lust, und wenn man schon mal eine auskunftsbereite Person gefunden hat, so soll die Fallprämie nicht an irgendwelchen kleinlichen Kriterien scheitern.
  3. Und schliesslich stehen Verwertbarkeit und Verwertung nicht selten in einem Missverhältnis. Antwortet die Zielperson nicht so, wie sie soll, so wird schon mal Formulierungshilfe gegeben. Und das ist nur das kleinste Problem. Denn, wenigstens für mich gilt, dass die Antworten auf manche Fragen tatsächlich davon abhängen können, wer die Antwort hören will oder soll, oder sogar getäuscht werden soll. Ich kannte einen britischen Major, der mir einmal, es ging um die Wahl von Tony Blair, mit dem Brustton der Überzeugung gestand, nein mitteilte, niemals würde er in einer Meinungsumfrage seine tatsächliche Meinung preisgeben, und er kenne auch niemanden, der das tun würde.

Die Frage, ob diese meine persönlichen Erfahrungen im Thema repräsentativ sind, darf man füglich bezweifeln; nachdem wir aber soeben Zeugen einer massiven und folgenreichen Fehleinschätzung der ganzen Branche geworden sind, mag man sie vielleicht, u:U., für wenigstens indikativ halten. Besonders im letzten Punkt, der falschen Antworten, bin ich davon überzeugt, dass die Bereitschaft zur „Fehlaussage“ mit dem Enttäuschungsgrad gegenüber dem politischen System korreliert: „Denen werden wir es mal zeigen“, könnte da als Motto gelten, „aber erst am Wahltag!“

Zwei: Womit wir bei den Medien wären.

Ich habe die Wahlnacht ab 4 Uhr früh verfolgt und dabei mitunter drei Screens (also Quellen) parallel konsultiert. Bemerkenswert fand ich, dass CBS noch eine halbe Stunde gebraucht hat, um ein Ergebnis anzuerkennen, das, beispielsweise, die New York Times, und mit ihr mehrere Nachrichtenagenturen, längst vermeldet hatte. Mein Eindruck: was sich als skrupolöse Berichtsgenauigkeit ausgab, war ein innerer Widerstand „der herrschenden Klasse“, die Hoffnung fahren zu lassen. Es durfte nicht sein.

Wirklich interessant ist, dass Trump seine Präsidentschaft zum halben Preis bekommen hat bekommen hat (siehe Grafik); ich finde das in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst einmal hat er damit auch nur die Hälfte an Verbindlichkeiten kassiert, die mit den Spenden überlicherweise verschränkt sind. Das heisst: er ist unabhängiger, insbesondere von „traditionellen“ Einflussnehmern, nicht aber frei; und mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit des Wahlgewinns (somit der möglichen sunkcosts), den Stil der Kampagne (somit der möglichen Image-Schäden) und die politische Ausrichtung des Kandidaten (somit der möglichen gesellschaftlichen Isolation) sagt das eine Menge über die Spender (und die mutmassliche Richtung ihrer Einflussnahme). Vielleicht könnte man pointiert sagen: Das „gute“ Geld (haha) war gegen ihn.

Gleich im Anschluss daran stellt sich die Frage: WIE konnte er dann gewinnen? Mit dem halben Budget! Die Botschaft, er hätte die sozialen Medien „besser“ bespielt als Hillary, kaufe ich nicht. Die Demokraten haben die „digitale“ Lektion mit (erst recht nach) Obama sogar als Erste gelernt. Und selbst wenn: man kann nicht ignorieren, dass alle Leitmedien des Landes, mit kaum nennenswerten Ausnahmen, GEGEN Trump, ja nicht nur „berichtet“, sondern regelrecht agitiert haben (mit guten, zwingenden Argumenten, damit ich da nicht missverstanden werde). Lässt sich Trumps Erfolg im Rückgriff auf alte Weisheiten interpretieren: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s ziemlich ungeniert.“?  Nein, der disruptive Punkt ist, und wir beobachten das ja auch in fast allen Teilen Europas: Das Rational WIRKT gegen seine eigene Intention. Es verstärkt die Ignoranz, das Weghören, das „Na und!“ und „So what“. Der gegen Trump gerichtete Einsatz wirkt, und man kann das sogar quantifizieren: mit einem Gewicht von 500 Millionen Dollar, zu seinen Gunsten.
„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ – haben wir gelernt. Was waren das für wohlige Zeiten, wo man nur morgends ordentlich wach werden musste!

Die richtig falschen Konsequenzen

#SaschaLobo oder #MichaelSeemann sind voll der Selbstkritik: sie hätten, statt hinzuschauen, das Erhoffte geglaubt. Ich halte diese aufgeknöpften Hemden für unangemessen; immerhin dürfen und müssen wir für unsern Teil in Anspruch nehmen, dass wir geprüft haben, was wir erfahren konnten. Immerhin leben wir hier, und nicht dort, lesen oder hören, was hier ankommt und was sich als solche „ferne Quelle“ bewährt hat. Ausschlaggebend für unser Missverständnis ist also das Unverständnis, das wir aus unserem Rechercheraum als Erkenntnis extrahieren! Könnte man einwenden, dass wir Foxnews und USA today nicht konsultiert haben; mit guten Gründen, wie wir dachten. Wir haben die Ostküste gelesen und wir haben die Westküste gehört, denn was bitte sehr, geht UNS der mittlere Westen an? Wir hier, als meinungsbildende Eliten, und unsere Counterparts auf der anderen Seite des Atlantiks, leben in einer doch tatsächlich anderen Welt, einer Parallelgesellschaft vielleicht, wie es David Remnick vom New York Magazin konstatierte. 

Das aber ist auch erst die halbe Wahrheit, denn in der Parallelgesellschaft, zumindest in der medialen, klaffen kontinentgrosse Interpretationslücken. „Die“ Medien haben es nämlich auch nicht verstanden, auch "unsere" Welt nicht: Komplexe, beschleunigte Systeme produzieren nicht nur Disruptionen, und daraus resultierend sozial-ökonomische Flächenschäden, sie produzieren vor allem Deutungsvakui, weil ... Denken Zeit braucht, Redundanz, Prüfung, Erfahrung, ein paar Lehrstühle für die Grundlagen, und … weil das Tempo der (ökonomischen) Quartalsberichterstattung diese Zeit nicht hergibt. Der werbeabhängige Medienkanon von Parteiengezänk bis Skandalgenudel, von Gendertoiletten bis Menschenwürde, von Mitbestimmung bis Pluralismus, von Kinovorschau bis Kindergartenmangel, von Masshalten bis Geiz-ist-geil reflektiert nicht die tatsächlich brennenden Entwicklungen. Und wenn, dann aus der Perspektive staunenden Unverständnis (Das Internet ist ja bald voll …).

Michael Seemann sagt: nach dem Brexit hätten wir es besser wissen können; vielleicht hätte er recht haben können, hätte er aus dem Brexit die richtigen Schlussfolgerungen gezogen gehabt. Hat er aber nicht, auch jetzt nicht. Jetzt will er einen linken Populismus gegen den rechten setzen; lass mich das mal zuspitzen: er will mit den Beelzebub mit dem Teufel austreiben. Naja, mal quergedacht: könnte das klappen? 

Nein, natürlich nicht, aber nicht, weil es im Prinzip nicht klappen kann, sondern weil es dafür zwei Dinge bräuchte: einen programmatischen Ankerpunkt und das entsprechende Personal. Mit welcher Nachricht denn sollte „das Volk“ von links vereinnahmt werden? Die 33,5 Stunden Woche? Was es in diesem Sinne „links“ an Nachrichten geben mag, das wird von Sarah Wagenknecht geclaimt; und die ist als populistische Führungsfigur nachgewiesenermassen ungeeignet. Sonst wer? Herr Schulz?

Aber verfolgen wir den Gedanken einen Moment noch, vielleicht ist nur das alte links/rechts-Narrativ unbrauchbar geworden. Was eint uns denn mit dem „white trash“, den Farmern und Waffenfreaks des mittleren Westens? Oder Ostens, in der deutschen Übersetzung? Wir können die fehlenden Gemeinsamkeiten nicht links-populär behaupten. Denn die Probleme liegen nicht in der Verteilung (zumindest noch nicht), sie liegen in der Perspektive, in der globalen Fragilität, im technologischen Änderungssturm. Mit Facebook und Twitter haben wir den „Digital Divide“ aus dem Auge verloren, es gibt ihn aber. Wir sind Zeugen eines Aufstands der Abgehängten (und/oder Bedrohten), die von den Ursachen ihrer Revolte eher keine, allenfalls phänomenale Kenntnis haben, geschweige denn Verständnis. Michael Seemann hat vor kurzem die „globale Klasse“ als neue soziologische Entität identifiziert. DEN Gedanken könnten wir weiter verfolgen, sagen wir, im Sinne eines Digital-Populismus. Erste Anzeichen für die Tragfähigkeit eines solchen Ansatzes gibt es: #Calexit.