Putinismus ?? Russlandversteher?

Sascha Lobo geisselt die Putinfreunde

Nun sag, wie hast du's mit der Religion?

27-09-2020
 

In seiner Spiegel-Kolumne (link am Text-Ende) fragt Sascha Lobo: „Wo kommen eigentlich die ganzen Putinfreunde her?“, in seinem PodCast höre ich davon. Über „meine Haltung zu Russland“ hatte ich noch nicht ernsthaft nachgedacht, aber nachdem ich Lobos PodCast gehört hatte, war ich mir selbst verdächtig

Perspektivwechsel

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Meistens bin ich mit Lobo einverstanden, plus/minus: hier und hier und an vielen anderen Stellen fand ich seine Analysen gut oder gar besser, jetzt muss ich das genauer sagen: im psychologisch-kommunikativen und micro-politischen Bereich teile ich immer mal wieder seine Standpunkte und Beobachtungen. Jetzt, im macro-politischen, zeigen sich einige … Differenzen; um es höflich auszudrücken.

Bei der Diskussion der mit Russland und Putin verbundenen Fragen werde ich auf den moralischen Gehalt geostrategischen, bi- oder multilateralen Interessenausgleichs stossen – also etwa die Frage, ob die Nord-Stream Pipeline mit dem Attentat auf Alexej Nawalny zu verrechnen ist. 

Dazu ein paar Worte vorweg: Das aufrechte Eintreten Sascha Lobos für Demokratie und Menschenrechte und seine unmissverständliche Haltung gegenüber dem Despoten und mutmasslichen Auftraggeber Wladimir Putin ist in der Bewertung alternativlos und ganz sicher der richtige Ansatz – wenn es gilt, eine Debatte in der evangelischen Akademie Tutzing zu bestreiten. Ob an seiner Haltung aber auch die transnationale Vertrags-, Sicherheits- und/oder Verteilungsfragen ausgerichtet werden können, das muss schon ein paar Zweifel aushalten. 

Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten daran gewöhnt, den internationalen Dialog mit moralischen Fragen für die Galerie zu begleiten. Vor den Konferenzsälen herrscht dann regelmässig Getöse: „Und was ist mit … den Armeniern, Uiguren, Frauen, Homosexuellen, Kritikern, Journalisten?“ usw.. „Was tut unser/e Aussenministerin/Bundeskanzler, um oder für …?“ Traditionell und aus gutem Grund sind die „inneren Angelegenheiten“ irgendeines Staates nicht unsere Sache – oder die irgendeines Aussenministers; dafür hat er/sie kein Mandat! Er oder sie mag eine Meinung haben und kann sie auch äussern; das ist sein Recht, wenn nicht gar eine Bürgerpflicht. Nur eben nicht in der Rolle als international verantwortliches Spitzenpersonal. Sie/er soll die Beziehungen regeln (bis hin zu der Möglichkeit, wie etwa im Falle Nord-Koreas, keine Beziehungen zu unterhalten). Auch mit den besten Vorsätzen können wir unser Rechts-, Demokratie-, Kultur-, Moral- oder Regierungsverständnis, und zwar selbst dann nicht, wenn von schreiendem Unrecht die Rede ist, nicht irgendeinem Land aufnötigen (verurteilen können wir es schon!), – weil wir umgekehrt auch nicht wollen, dass Amerikaner oder Chinesen uns sagen, wie wir zu leben, zu strafen, zu wirtschaften oder zu feiern haben oder – wie im Fall Nordstream (um uns ihr eigenes Frackinggas zu verkaufen) – mit wem wir welche Geschäfte machen. 
Und was die „inneren Angelegenheiten“  eines Landes betrifft – ich meine, Bert Brecht war in der Sache weiter: 

„Und weil der Prolet ein Prolet ist,
drum wird ihn kein anderer befrein.
Es kann die Befreiung der Arbeiter
nur das Werk der Arbeiter sein.“ 

In anderen Worten: Sascha Lobos Position gegenüber dem Despoten Putin ist ehrenwert, doch in meinen Augen unbrauchbar und überdies irritierend undialektisch. Denn de facto – Verträge oder Abreden müssen ja „trotzdem“ zustande kommen – ist die Frage der Moral in der Aussenpolitik nur ein bigotter Austragungsmodus unserer Innenpolitik. 

Damit bin ich beim Thema: Bin ich am Ende ein Russlandversteher, oder so was in der Richtung? Hat mich mein „Anti-Amerikanismus“ (zuletzt hierhier oder hier) tatsächlich (halb-wissentlich oder gar unterbewusst) in die Arme des Kreml getrieben – oder habe ich mich, was womöglich noch problematischer wäre, einer Äquidistanz schuldig gemacht? 
Die damit ausstehende Evaluation meiner Gesinnung müsste wohl drei Aspekte umfassen: 

I. Putin als Person, 
II. die geostrategische Lage und 
III. die Haltung Europas.

I.
Sein Vater, so ist zu lesen, war Fabrikarbeiter und überzeugter Kommunist; Wladimir Wladimirowitsch, der Sohn, ist Jahrgang 1952. So fing es schon mal an: seine persönlichen und politischen Prägungen erfuhr er in der UdSSR. 1975, mit 22 Jahren, da hat er ein Jura-Studium bereits hinter sich, wird er KGB-Mitarbeiter und bleibt dies, sozusagen „bis zum bitteren Ende“, bei dem er den Sturm auf die MfS Bezirksverwaltung in Dresden miterlebte – und dort, sei es mit der Waffe oder (bei widersprüchlicher Quellenlage) mit guten (deutschen) Worten, verhinderte, dass die Anarchie auch auf die nahegelegene KGB-Niederlassung übergriff. Diese Rahmendaten seiner Sozialisation und politischen Indoktrination führen mich – ich kenn den Herrn ja persönlich nicht – zu einer Mutmassung: Der ist gläubig! Er braucht einen Sinn im Leben, und der Kommunismus versprach, jedenfalls theoretisch, die gerechte Sache. Als KGB-Agent aber vertritt er nicht nur eine Überzeugung, sondern tritt den inneren und äusseren Feinden mit aller Kraft oder auch Gewalt entgegen, und so denke ich ihn mir regelrecht als „glaubenssüchtig“, fanatisch, ein 150Prozenter. Du könntest, um den Gedanken dahinter zu paraphrasieren, auch dann ein guter Katholik sein, wenn Du nicht in den Dienst der Kirche ein-, und dann – sozusagen obendreinquadrat – auch noch dem Opus Dei bei-trittst. Blosses Mitläufertum ist Putins Sache nicht.

Und da haben wir ihn nun, es ist 1989, er ist KGB-Oberstleutnant, und muss mit ansehen, wie seine Kirche, sein Reich, sein System implodiert; ein Lebensereignis! Der Zusammenbruch der Sowjetunion sei eine gesamtnationale Tragödie von gewaltigen Ausmaßen und … die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, so wird Putin an vielen Stellen zitiert. Die Hälfte seiner Bevölkerung, mindestens, heisst es, dachte ebenso. Wenn das keine existentielle Krise auslöst! Dass sich Putin in den frühen 90er Jahren zur russisch-orthodoxen Kirche bekennt, lange bevor das (s)ein politisches Kalkül hätte sein können, verdeutlicht, wie schwer ihn der Verlust des Glaubens erschüttert haben muss. Deswegen fällt mir die Vorstellung auch nicht schwer, dass er nach diesem Abriss des Lebenssinns, dem er – immerhin ist er jetzt 37 – sein ganzes bewusstes Leben hindurch gedient hatte, zu einem stillen, unerbittlichen, radikalen Entschluss gelangt war: Make Russia great again! 

Dass Putin, andererseits, einen geschmeidigen Opportunismus mit einem finsteren und unnachgiebigen Machtinstinkt zu verbinden weiss, nun, irgendwas Brauchbares muss er beim KGB ja gelernt haben! Jedenfalls keine Skrupel oder übertriebenen Rücksichten. Anders aber hätte er – in einer Zeit, in der es im Reich drunter und drüber ging und der amtierende Präsident nicht selten indisponiert war – auch nicht zu dessen designiertem Nachfolger werden können. „Ich bring das wieder in Ordnung, Väterchen!“ so ungefähr stell ich mir sein Versprechen an Jelzin vor. [qtip:(1)| "Что значит "по порядку"? Что ты собираешься исправить?" - "В любом случае, папочка, не волнуйся об этом…“] Putin übernahm die Präsidentschaft, nachdem Jelzin, wie überall betont wird: überraschend, am 31. Dezember 1999 zurückgetreten war. In seiner ersten Amtshandlung vergab Putin seinem Gönner alle etwaigen Sünden, darunter Geldwäsche und Korruption, von denen schon eine Weile die Rede war, und zwar für immer und lebenslänglich – zuzüglich einer recht passablen Apanage. Deal? Deal!

Damit insinuiere ich Parallelen zu Trump – das ist Polemik! 

Mein Putinbild unterscheidet sich meinem Trumpbild – obwohl es Parallelen gibt – in etwa so, wie Caesar sich von Nero unterscheidet (ein hinkender Vergleich, aber ein Anhaltspunkt). Zunächst mache ich mir keine  Illusionen darüber, dass Putin, wie Trump, sein Amt für persönliche Zwecke missbraucht. Ob er tatsächlich über ein Vermögen von 200 Milliarden verfügt, wie es das manager magazin 2018 kolportierte? Wer weiss das schon. Schaut man auf die Oligarchen des Landes und deren Wege zum Ruhm, aber vor allem zu Reichtum, so wird wohl auch Putin nicht zu kurz gekommen sein. Wieviel es am Ende dann ist, auf Heller und Pfennig? Egal. Und zwar egal vor allem, weil ich mir Putin nicht von seinem Amt getrennt vorstellen kann! Will er einen Fuhrpark? Segelschiffe? Ins All fliegen? Dafür braucht er kein Vermögen. Er hat den Staat in der Tasche. 

Aber: der ihn auch! Es würde mich nicht wundern, wenn Putin, wie man so sagt: eines Tages in den Stiefeln abtritt, breitbeinig über irgendeinen roten Teppich walzend, wie das so seine Art ist. Das Rote in seinen Adern ist flüssige Macht, Geld ist ein Nebenschauplatz, der allenfalls unter dynastischen Gesichtspunkten eine Rolle spielt. Putin ist Nationalist, Zar, ein Monomane der Herrschaft, glaubt sich unersetzlich, aber er ist kein Egomane der Eitelkeit. Zwar: die unvergesslichen Bilder mit Gewehr und nacktem Oberkörper auf dem Pferd könnte man in diese Richtung missverstehen; meine Deutung geht in eine andere Richtung – aber das muss ich zuvor nochmal bei Pilgrim oder Theweleit nachlesen. Er ist intelligent, … gerissen, verschlagen, skrupellos, in seinem Misstrauen einsam, und ich will seine Keller nicht besichtigen. Wenigstens muss ich dort nicht, noch nicht?, nach Alexej Nawalny suchen. 

An Nawalny, am Umgang des Regimes mit seinen Gegnern – so auch mit Anna Politkowskaja, Sergei und Julia Skripal, Alexander Litwinenko oder Boris Nemzow –, kristallisiert die Haltung zu Putin. Oppositionelle und Gegner mit Tscheka-Methoden aus dem Weg zu schaffen und zu töten, offenbart eine Haltung zur Macht und ihren Zwecken, die das Mittelalter nur knapp überwunden hat. Macht verlangt Opfer, offenbar, das moralische allen voran; seit Frank Underwood weiss das auch das russische Volk [qtip:(2)| netflix gibt es in 190 Ländern, darunter Russland]. Diese Politik ist kriminell, menschenverachtend und zutiefst verabscheuenswürdig; nur glaube ich nicht, dass es eine Spezialität Putins oder seines KGB ist: die CIA, der Mossad, der MIT – und MI6 & MI5 veranstalten sogar diese beliebte Soap, passend zur Titelmusik „Licence to kill“ – von Gladys Knight. Und nach den dokumentierten, auch „zivilen“, von Obama persönlich angeordneten Drohnentötungen [qtip:(3)| „Zwischen dem Amtsantritt Barack Obamas im Januar 2009 und dem Jahresende 2015 kamen demnach 64 bis 116 Personen ums Leben, die als „Nicht-Kombattanten“ eingestuft wurden. Die Zahl der getöteten Kombattanten soll hingegen bei 2372 bis 2581 liegen.“] sollte man nicht mehr so tun, als sei Putin der einzige Staatschef, der Blut an den Händen hat. Die Frage, die jedem Zivilisten die Beurteilung der Fakten und der Behauptungen so schwer macht, ist die nach den moralischen Kategorien von Staatsgeschäften, denn gab es „Opfer“, so waren diese ja stets und zweifellos Terroristen, Mörder oder Staatsfeinde …

Was es auch kostet, er, Putin, will es vor der Geschichte rechtfertigen, da sieht er sich legitimiert und sein Volk, – die Zustimmung hat nachgelassen, aber – sehr lange Zeit stand es hinter ihm. So mein Bild, das sich natürlich auch nur aus den Medien speist – und insofern auf wackligen Fundamenten steht. Anders als Trump, der nicht mit der Mehrheit der Stimmen und tatsächlich nur von einem Viertel der wahlberechtigten US-Bürger sein Mandat bekam (47,5% der tatsächlich abgegebenen Stimmen; Clinton gewann 3 Mio Stimmen mehr) – und den ich für einen pompösen Hampelmann der US-Plutokratie halte –, ist Putin Russland, ein Despot, ein Zar, mit dem aber die Mehrheit, wenigstens die meiste Zeit, einverstanden war/ist. Russland will … wollte (so) geführt werden; das ist meine Conclusio. Und das bringt mich zu geopolitischen und -strategischen Fragen. 

 

II.
Und da komme ich dem gemeinen Russland-Versteher am nächsten. Wie es dazu kam, zeigen die politischen Landkarten in den Versionen 1989 und 2020 (siehe auch die durch click vergrösserbaren Abbildungen jeweils rechts). 

Während sich die verschiedenen Friedensmissionen der NATO-Osterweiterung schrittweise halb Osteuropa unter ihrem Schutzschirm eingliederten, hat sich der Aggressor Russland völkerrechtswidrig die komplette Krim einverleibt. Die Zustimmung der Krim-Bewohner zum „völkerrechtswidrigen“ Referendum [qtip:(4)| „Nach Auszählung von mehr als der Hälfte der abgegebenen Stimmen liege die Zustimmung bei 95,5 Prozent, …“] und der russischen Bevölkerung zur Annexion der Krim [qtip:(5)| „Damals war die Zustimmung für Russlands Präsidenten von 36 auf 51 Prozent gewachsen.“] macht den Vorgang möglicherweise [qtip:(6)| ¿fake data?] verständlich – aber deswegen nicht „legal“

Umgekehrt ist die NATO-Osterweiterung aus Sicht Moskaus Wortbruch und Verrat: 

„Das Narrativ des Kremls hat eine starke moralische Dimension. Dem Westen wird Wortbruch vorgeworfen. … Er [qtip:(7)| Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007] aber wolle dem Auditorium ins Gedächtnis zurückrufen, was beispielsweise NATO-Generalsekretär Manfred Wörner am 17. Mai 1990 in Brüssel gesagt habe: „Schon die Tatsache, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“

Die Zitate stammen von der WebSite der Bundesakademie für Sicherheitspolitik: dort wird zwar dem behaupteten Junktim (Wiedervereinigung gegen Sicherheitsgarantien) sozusagen „offiziell“  widersprochen, neben Wörner wird aber auch Hans Dietrich Genscher in diesem Sinne zitiert.  

Diese historischen Scharmützel sollten zumindest genügend Hinweise darauf geben, dass es für Putins geopolitische und -strategische „Massnahmen“ nachvollziehbare Gründe gibt, selbst wenn man die Vorgänge selbst (–> Krim) verurteilt. Will man sie aber verurteilen, kommt man um eine Stellungnahme zur NATO-Osterweiterung nicht herum. Während dem unbedarften Russland-Versteher schon auch ein gewisses Verständnis dafür aufkommen kann, dass Herr Putin sich bedrängt gefühlt haben mag – ist das von den westlichen Medien (inkl. Lobo) hirnlos nachgeplapperte Narrativ jedenfalls unhaltbar. 

Vielleicht aber muss man dieses Putin-Verständnis auch nicht übertreiben: Schaut man auf die räumliche Ausdehnung Russlands, kann man sich den Hinweis kaum verkneifen, dass sich der Herr Putin mal nicht so anstellen soll: Platz genug hat er doch!

Das ist natürlich kein politisches Argument! 

Politisch dagegen ist das Delta, die Veränderung, nämlich, dass sich die Ostgrenze der Nato um 1.000 oder – je nach dem, wie man es bemisst – mehr Kilometer auf Russland zu verschoben hat. Erst mit dem Blick von oben, und da reicht selbst die Flughöhe eines Helikopter nicht, wird das strategische „Spiel“ deutlich. Erst dort oben erkennt man in Belarus den „verbliebenen“ strategischen Puffer. Deswegen versichert Putin, dem weissrussischen Volk „solidarisch zur Seite zu stehen“, nicht etwa, weil ihm Wohl und Wehe des dortigen Diktators freundschaftlich am Herzen läge. Ähnlich verhält es sich mit Kaliningrad oder der Krim: Weil ihm die Nato immer weiter auf den Pelz rückt, sichert sich Putin Brückenköpfe, deren geografische Lagen gewisse Sicherheitszonen überdecken. Man fühlt sich an das Spiel „Risiko“ erinnert. Zugegeben, diese Art herrenreiterisches Herumschieben von Einflusszonen auf Kartentischen erscheint wie tiefstes 20. Jahrhundert. Es passt so überhaupt nicht mehr in unsere Zeit. 

Aber auch das ist kein politisches Argument.

Denn „unsere Zeit“, das ist in zivilisations-historischer Perspektive eine breite Spanne von Ungleichzeitigkeiten. Weite Teile der Welt leben noch im 20., gar im 19. Jahrhundert, in einigen Regionen spielt der Alltag womöglich noch ein paar hundert Jahre früher. Dagegen flirrt und glitzert das Leben in Südkorea oder Japan, in Shenzhen oder Shanghai, wie eine Leihgabe aus kommenden Jahrzehnten. Also: was gilt? Was ist „unsere Zeit“?
Die biografische Skizze von Putin jedenfalls macht klar, dass sein Denken vor vierzig oder gar 50 Jahren geprägt wurde. 

 

 

Schaut man aus dieser, Putins, Perspektive – so erscheinen die US- und NATO-Strategien – noch bei bemühtem Wohlwollen – nicht eben als unschuldige Völkerverständigung. Er sieht zunächst einmal das Militärbudget der USA, das für sich schon dasjenige Russlands um das 10-fache übersteigt, die Ausgaben der Rest-NATO kämen da mit einem Faktor drei noch on top. Noch einen Hinweis auf die geo-strategische Lage Russlands – nach der NATO-Osterweiterung und der materiellen Militärdominanz – geben beispielsweise die Einsatzgebiete der US-Marine, deren sechs Flottenverbände –  in Summe 296 Schiffe, darunter 10 Flugzeugträger, 1.200 Fluggeräte, 18 U-Boote (mit hunderten von Atomwaffen), und 340.000 SoldatInnen – grosse geo-maritime Regionen (überwiegend nördlich des Äquators) abdecken; plus der 10. Flotte, die als „Fleet Cyber Command“ zuständig ist „to execute the full spectrum of cyber, electronic warfare, information operations, and signal intelligence capabilities and missions across the cyber, electromagnetic, and space domains.“ Und wenn wir schon mal dabei sind: in dem Zusammenhang sollte man auch die 5 Eyes erwähnen, die digitale Spionage der USA, Canadas, UKs, Australiens und Neuseelands. … Ob es aber die 40.000 Mitarbeiter der NSA und ihr 62 Mrd. $-Budget mit den terroristischen russischen Trollfabriken aufnehmen können, liess sich nicht recherchieren. 

Der entscheidende Punkt: Wir denken da nicht hin, wir denken überhaupt nicht mehr in Kategorien von Geo-Strategie. Das ist, wie ich meine, ein klassischer Fall von selbstverschuldeter Unmündigkeit. 

Zurück zu: Wladimir Putin; der hat die Präsidentschaft Russlands (2000) in einer Phase übernommen, als der Kalte Krieg plus die 10 Jahre in Afghanistan die Leistungsfähigkeit des Landes überstrapaziert und damit letztlich bis in die Zivilgesellschaft schwer geschwächt hatte. Gorbatschow und Jelzin konnten, aus unterschiedlichen Gründen, den Wandel und die „neue“ Zeit zwar anstossen, aber nicht managen. 

In seiner Anfangszeit zahlte Putin für die russische Position der Schwäche und den Versuch, das Land wirtschaftlich aufzurichten und in eine mehr oder weniger „freie“ Marktwirtschaft zu überführen, mit einer Reihe von strategischen Vakua, sowohl militärischen, die die Nato sowie einige Warlords ausnutzten, wie auch ökonomischen, die den Oligarchen in die Hände spielten [qtip:(8)| wie bereits erwähnt: vermutlich auch ihm selbst, privat]. Um überhaupt so etwas wie Kontrolle glaubwürdig zu machen, vertraute Putin auf begrenzte aber rücksichtslose Operationen (Tschetschenien, Ukraine/Donbass), Geheimdienste und auf Willkür, wie etwa im Fall Chodorkowski, an dem er ein Exempel statuierte. Ein Zyniker könnte von „moderatem Staatsterror“ sprechen. 

Der eigentliche und kritische Punkt in dieser Argumentation steht aber noch aus und betrifft die Frage, ob Strukturen von der Komplexität und vor allem Ausdehnung Russlands (elf Zeitzonen!) überhaupt mit demokratisch legitimen Mitteln und Methoden auf das „zivilisatorische Level des 21. Jahrhunderts“ entwickelt werden können: 

Erstaunlich genug, dass Google Street View es bis ins 4.200 Km entfernte Krasnojarsk [qtip:(9)| dort, übrigens, kann man das 20. Jahrhundert noch besichtigen] geschafft hat, 54 Autostunden von Moskau aus. Um jedoch ins Café Razgulyay (im Bild obere Hälfte rechts) auf der Halbinsel Kamtschatka zu kommen, wird die Navi von Google nicht helfen: die weiss keinen Weg, und zwar gar keinen, nicht mal zu Fuss! Und um den Flughafen Belaja Gora (im Bild rechts oben, kurz vor dem Ende der Welt) fliegend zu erreichen, anders geht's nicht, muss man schon mal einen ganzen Tag einplanen. Wie kann eine Regierung denn irgendwas überhaupt verwalten (=kontrollieren), das mehr als 1.000 Kilometer abseits rudimentärer Infrastrukturen gelegen ist? [qtip:(10)| Wenn schon die Bayern ständig aus dem Ruder laufen!] Mit welchen „Strukturen“? Und wo die Strukturen fehlen [qtip:(11)| oder wo sie geschwächt, ausgedünnt oder administrativ untergraben werden … wie es uns derzeit vom US-System vorgeführt wird] droht kontinuierlich eine gewisse Form der Anarchie, sei es als Widerstand oder Korruption, als Regionalfürstentum oder in kriminellen, mafiotischen Gebilden. Als Antwort eines Systems, das sich damit nicht arrangieren will (oder muss), bleibt nur Repression, also Angst und Gewalt, strukturelle, verdeckte, offene. Das ist grobschlächtiger Machiavellismus, keine Frage, ich aber wüsste gern, ob es eine Alternative gibt. China ist ja – im Sinne demokratischer, menschenrechtlicher Legitimität – keine Alternative; allenfalls sieht es  aus der Ferne danach aus, als sei das Land sehr viel effektiver bei seiner Umgestaltung.

III.
Damit komme ich zu meinem letzten Aspekt, der europäischen Sicht und Strategie. Das erste, das in dieser Perspektive doch regelrecht ins Auge springt ist, dass diese Diskussion mit der Gründungserzählung der NATO beginnen muss:

Ich habe das an anderer Stelle bereits getan und so argumentiert, dass für mich das Legitimationsgefüge der NATO zu keinem historischen Zeitpunkt den tatsächlich obwaltenden Interessen entsprach. Ich schränke das ein: in der unmittelbaren Nachkriegszeit, bis zur Wiederbewaffnung in den mittleren 1950er Jahren, vielleicht noch bis Mitte der 60er Jahre, gab es immerhin so etwas wie ein *objektives* deutsches Schutzbedürfnis. Dessen Motive sich zu gleichen Teilen aus dem Vorgehen der russischen Besatzungsmacht (Berlin-Blockade, 17. Juni, Mauerbau…) und aus einem affektiven und medial geschürten Antikommunismus gespeist haben. Ich will hier weder die Legitimität noch die ideengeschichtliche Sippenhaft diskutieren: das ist Vergangenheit. Spätestens mit dem NATO-Doppelbeschluss (1979) gab es dieses Bedürfnis nicht mehr. 

Gegenwart dagegen ist der latente, unter Trump mal wieder virulente, tatsächliche oder gefakte US-amerikanische Isolationismus, vor allem als Ergebnis eines vorausfürchtenden Horrors vor einem Krieg im eigenen Land. Die Reaktionen auf Pearl Harbor [qtip:(12)| letztlich: Hiroshima/Nagasaki]) und 9/11 [qtip:(13)| von der NSA über die Homeland-Security bis zu den Kriegen in Afghanistan im Irak] bebildern doch sehr überzeugend, dass es stets das erste Interesse der USA war, dass, wenn nötig, „hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen“ …, nicht aber im US-amerikanischen Mutterland. So gesehen waren der Kalte Krieg eine mit Vorsatz gepflegte Vernebelung des tatsächlichen US-Interesses: nämlich eine etwaige Auseinandersetzung mit der Sowjetunion in Europa, jedenfalls nicht in den USA, stattfinden zu lassen. Unverhohlen war Hattenbach das Ground Zero der NATO-Planungen, zugespitzt: lieber Mainhattan opfern als Manhattan. Dass die europäische und die Welt-Sicherheitslage nach dem zweiten Weltkrieg ohne Hitler und die „alliierten“Kräfte, die Hitler-Deutschland niedergerungen haben, nicht zu denken ist: ein No-Brainer; aber der Dreh- und Angelpunkt der Nachkriegsgeschichte ist die Bombe, und die mit ihr einher gehende Bedrohung für die UdSSR. Mit ihr wurde der Kalte Krieg zu einer Geschichte des heissen Aufrüstens. Das damit verbundene langsame Ausbluten der Sowjet-Ökonomie war eine lange unbemerkte, dann aber gern gesehene Nebenwirkung.

In anderen Worten: der US-amerikanische „Schutzschirm“ ist reiner AgitProp, Fake News, eine PR-Story! Im Gegenteil bindet dieser „Schutzschirm“ die potentiellen strategischen Konflikte (der USA!) in Europa. Was daran ein europäisches Interesse sein könnte, erscheint mir schwer zu verargumentieren. Und doch leben wir seit nunmehr 75 Jahren mit dieser Mär. 

Umgekehrt beseitigt diese Analyse nicht die tatsächlichenSicherheitsinteressen Europas! Die allerdings sollten auf eigenen Füssen stehen – eine Voraussetzung, wie ich meine, für einen souveränen Umgang mit Russland. 

Es gehört zu meinem Credo, dass sich Deutschland – aber ich meine Europa – aus der transatlantischen Bindung befreien muss. Von Deutschland rede ich zuerst, weil sich zunächst hier ein Bewusstsein davon einstellen muss, dass diese Abkopplung und Emanzipation notwendig ist (Sascha Lobo steht geradezu paradigmatisch für die herrschende Metaphysik), – aber ich meine Europa, weil gewaltige Interessen im Spiel sind und eine solche Ablösung nicht reibungslos von statten gehen könnte; um das Mindeste zu sagen. Ich rede auch von Europa, weil es ein mächtiger Faktor auf der Weltbühne ist, – wäre, wenn es sich nicht dem divide et impera der US-amerikanischen Interessen ausliefern würde. Die grob gerundeten Rahmendaten sprechen für sich:

Militärisch wäre Europa ein Schwergewicht, das – als eigener Verbund – die zweitgrösste Militärmacht der Welt darstellte; wäre, wenn es sich denn dazu entschliessen könnte. Jede Menge Fallstricke und Hürden, natürlich ja: Der Brexit … sollte aber die militärischen Interessen UKs eigentlich unberührt lassen. Dann aber die Uneinigkeit der 27 … das ist ein gewaltiges Hindernis; gerade wenn es um die Ablösung von der NATO ginge, wären die Staaten der NATO-Osterweiterung vermutlich kaum zu gewinnen (und würden in ihrer Russlandphobie leichte Opfer neuerlicher US-Intrigen). Ein Kerneuropa dagegen, dieser Gedanke ist ja bereits überreif, wäre stark genug, eigene Interessen glaubwürdig zu vertreten. Das anzustossen bräuchte es gleich drei Macrons (in Frankreich, Deutschland und UK), zeitgleich (und ein paar Makrönchens noch dazu), zweifellos die grösste Hürde. 

Hier ist aber Russland mein eigentliches Thema (auch wenn ich eine tragfähige europäische Einigung in meinem Argument voraussetze). Und gerade Russland könnte nach einer radikalen europäischen Neupositionierung überzeugende Perspektiven bieten. So liessen sich die ökonomischen Verwerfungen, die mit der Abnabelung von den USA zweifellos verbunden wären, über eine Orientierung nach Osten vermutlich kompensieren. Hätte Russland daran ein Interesse? Argumente gäbe es, liesse sich einmal das Misstrauen überwinden: traditionelles ökonomisches Denken sähe in Russland einen Markt mit grossem, ja, gigantischem Potential – beide Seiten würden profitieren. Allerdings: ökologisch ginge so ein Schuss nach hinten los. Deswegen müsste man das Argument geradezu umkehren: in seiner „Leere und Unberührtheit“ und auch Rückständigkeit böte Russland ein ideales Umfeld, einer ökologisch orientierten Ökonomie die notwendigen Skaleneffekte zu ermöglichen [qtip:(14)| sozusagen in einer Analogie zu weiten Teilen Afrikas, in denen das Telefonnetz die Ära des Kupferkabels schlicht übersprungen hat]. Eine solche Entwicklung wäre ganz gewiss im gegenseitigen Interesse – und könnte zum Blueprint anderer Entwicklungen werden. Hinzu kommen noch kaum bedachte Perspektiven, die sich für ein Russland als kommendes Einwanderungsland ergeben – auch … wenn Sibirien in seiner tagesaktuellen Verfassung vielleicht noch nicht soo attraktiv ist. Eine Stärkung Russlands würde schliesslich dazu beitragen, die gerade überschiessenden Ambitionen Chinas einzuhegen. …

 

IV.
Wie realistisch sind diese Szenarien? 
Kurz und knackig: derzeit knapp über gar nicht. 

Wer es mit Sascha Lobo und seinem moralischen Anspruch aufnehmen will, muss über Russland reden, wie es liegt und steht – mit einem russischen Präsidenten, der Ethik nicht für eine politische Kategorie hält, und einer EU, einem Deutschland, die, gemeinsam, in Abwägung all ihrer Interessen und Widersprüche, zu politischen Prioritäten unfähig sind. Dann … sind wir wieder am Anfang dieser Überlegungen, und mir bleibt nichts, als den zynischen Realismus gegen die naive Kaffeehauspolitik in Stellung zu bringen. Ich kann mich nicht auf eine moralische Seite schlagen, die die Ergebnisse ihrer Interventionen nicht verantworten muss (auch nicht könnte), und ich will keine Politik befürworten, bei der ein Nawalny unter die Räder geheimdienstlicher Mordkommandos gerät. Sich nicht zu entscheiden ist aber auch keine Option – und in Gefahr und grosser Not ....
In diesem Dilemma zwischen den Stühlen schlage ich mich (naja, persönlich bequem wasche ich meine Hände in Unschuld ...) argumentativ auf die Seite des Realismus. Politik ist mit weisser Weste nicht zu haben.

Aber … doch … schon die knackige Antwort greift zu kurz:
Trump ist 74, Putin ist 68, Xi Jinping ist 67 – und das ewige Leben ist noch nicht erfunden. Hinzu kommt das Krisenargument – Klima, Finanzen, Digitalisierung, Migration. Wir können zwar glauben, dass die über Jahrzehnte gewohnte Politik immer so weiter und so weiter gehen wird: das ist aber wenig wahrscheinlich!  

Naomi Klein hat – ausgerechnet bei Milton Friedman – das passende Motto unserer Zeit entdeckt: Wirkliche Veränderungen gibt es nur in der Krise. Die Lunte radikaler Veränderungen glimmt bereits. Die Ideen jedoch, auf die man dann zurückgreifen will, müssen reif sein, ausformuliert, zugänglich. Das zu beginnen ist hohe Zeit, denn bis sich so etwas wie eine Haltung, ein Bewusstsein durchgesetzt hat, braucht es ... 

Na, wenigstens habe ich jetzt eine Haltung zu Russland, für den Fall, dass der Sascha noch mal fragt.

Hier der Link zur Spiegel-Kolumne von Sascha Lobo: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/wladimir-putins-fans-wo-kommen-sie-e…