Fukuyama versus Geuss

Die Theorie und das Leben

Was meint liberal?

31-10-2023
 

Wer schon würde sich als illiberal bezeichnen? Allein der Hinweis auf Victor Orban genügt, um grösstmöglichen Abstand zu suchen. Ex negativo ist sofort klar, dass wir aber so was von liberal sind! Umgekehrt, sozusagen ex positivo, wäre dagegen gar nicht so einfach, den Liberalismus jenseit einiger Gemeinplätze zu definieren. Zufällig (?) haben Raymond Geuss und Francis Fukuyama ziemlich zeitgleich darüber nachgedacht, was Liberalismus ist und wie sie dazu stehen.

Egal, wie Du an die Sache ran gehst ....

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Koinzidenz

Francis Fukuyamas (FF) „Der Liberalismus und seine Feinde” steht seit Erscheinen (2022) auf meiner Wunschliste bei rebuy und medimops – und soo war es mehr Zufall als Vorsatz, dass ich mit der gleichen Bestellung FF zusammen mit Raymond Geuss (RG) erwarb. Ich kannte Fukuyamas „The End of History and the Last Man”, Geuss aber gar nicht; von dessen Buch „Nicht wie ein Liberaler denken” hatte ich erst kürzlich in einem PodCast erfahren – zufällig waren beide Bücher zeitgleich verfügbar.

Die Werke lassen sich nicht vergleichen, und entgegen der ersten Vermutung sind sie auch keine echten Antagonisten. Fukuyama adressiert den Liberalismus als staatliche Verfassung und diskutiert in dieser Perspektive mehr dessen Schwächen als Stärken – gewiss aber in der Absicht, ihn zu erneuern und von seinen neoliberalen Verirrungen zu befreien. Geuss hingegen erzählt seine „philosophische Biographie” als Folge einer anti-liberalen katholischen Ausbildung. Die Bücher erschienen fast zeitgleich und waren sich daher gegenseitig unbekannt; vom Ansatz her behandeln sie den Liberalismus wie aus verschiedenen Welten.

Obwohl ich mich oft und zuweilen auch ausführlich mit der „liberalen Haltung” als einem politischen Grundbaustein befasst habe, war meine Position zum Liberalismus theoretisch oberflächlich, von parteipolitischen Erfahrungen geprägt und eher emotional als durchdacht und begründet.

Ich sollte an der Stelle die Aussage verweigern!

  • Ich war schon immer der Meinung, dass ich Recht habe; aber bitte, sein wir liberal: wenn Du unbedingt anderer Meinung sein willst, na gut …
  • Du lebst gegen alle meine Grundsätze ( … egoistisch, rücksichtlos, patriarchalisch,  you name it …), aber bitte, ich will mal nicht so sein, auch Du hast das Recht, nach Deiner Façon zu leben …
  • Natürlich ist Religion Opium fürs Volk (letztlich jede dogmatisch-ideologische Weltsicht), und ich dachte, wir hätten diese Diskussion im letzten Jahrhundert überwunden, aber bitte, du bist Jude, Du bist Muslim, wenn Du einen HerrGott brauchst, meinetwegen …
  • Ich halte Kompromisse für falsch – sie vertagen das Problem; aber bitte, wenn wir anders nur zu gar keiner Lösung kommen …
  • Und äuch ästhetisch: Chaqun à son goût.

Bei Lichte besehen war mein (gelebter) Liberalismus mehr lauwarmes laissez faire, auch legitimierte er eine gewisse Faulheit, wo es mir die Anstrengung des Streitens nicht wert war, und gelegentlich kaschierte er ein angewidertes LmaA. Etwas geglättet, könnte man sagen: Für einen harten Liberalismus fehlte es mir an Engagement und Interesse, meine Position war schludrig. Fukuyama versprach auf knapp 200 Seiten einen gewissen Überblick über die Grundlagen: genau mein Bedarf. Und tatsächlich: ich bin froh! Jetzt, nach der Lektüre, weiss ich, was wir am Liberalismus haben und warum ich dagegen bin. Aber der Reihe nach:

Francis Fukuyama ist der Interessantere

Am Liberalismus als einer staatlichen Verfassung kann ich mich reiben. Eine biographisch-erzählerische Sicht auf einen Bildungs- und Lebensweg, der sich mehr und mehr gegen den normativen Liberalismus stellt, ist auch dann weniger „spannend”, wenn ein englischer Philosoph darüber schreibt (vielleicht hatte ich dem PodCast nicht richtig zugehört). Am Ende würde ich meine Meinung wieder ändern, zunächst aber haben mir zwei Eindrücke die Begeisterung für Raymond Geuss (RG) verhagelt.

Da ist zunächst die Sprache: ich empfand die Übersetzung als nicht sonderlich überzeugend. Oft sind die Sätze ellenlang, verschachtelt und kommen einfach nicht auf den Punkt. Besonders unangenehm finde ich die Lektüre, wenn ein Satz eine Behautung oder These einleitet, dann endlose Pirouetten durch Nebenbemerkungen zieht und erst nach einer halben Seite den eingeleiteten Satz zu einer Aussage vollendet: Hä? Worum ging es grad nochmal? Das nervt auf Dauer.

Zweitens aber ist es auch die Biografie selbst. Geuss kam als Emigrantenkind aus Ungarn nach Philadephia und wurde in einem ungarisch-katholischen Internat von Priestern („ungarischen Piaristen”) erzogen, von denen zumindest einer über ein tiefgründiges, differenziertes, aber eben katholisches Weltbild verfügte. Geuss referiert über lange Strecken die Lehren dieses Béla Krigler; die insofern mit dem Thema korrespondieren, als wir – einerseits – zu recht erwarten können, dass liberale Ideen nicht Gegenstand eines katholischen Internats sind, andererseits aber doch von überraschend klarsichtigen Begründungen und Diskussionen des katholischen Dogmatismus erfahren. Wie auch immer: sprachlich, inhaltlich, ideologisch, sogar historisch und auch geographisch ist mir diese Biographie sehr fern, so fern, dass ich streckenweise Konzentrationsprobleme hatte.

Deswegen zunächst Fukuyama; wir kommen aber auf Geuss zurück.

Der Liberalismus und seine Feinde gliedert sich in 10 Kapitel; ab Kapitel 5 wuchs mein Interesse. FF begründet seine Analyse mit den Bedrohungen des Liberalismus. Das ist nicht überraschend, denn seine Hoffnung auf ein Ende der Geschichte (1992) – weil Demokratie und Märkte den „Sieg” davon getragen hätten – ist seiner eigenen Prognose zum Opfer gefallen:

Aber angenommen, die Welt ist sozusagen "angefüllt" mit liberalen Demokratien, so dass es keine Tyrannei und Unterdrückung mehr gibt, die diesen Namen verdient und gegen die man kämpfen könnte? Die Erfahrung zeigt, dass die Menschen, wenn sie nicht für eine gerechte Sache kämpfen können, weil diese gerechte Sache in einer früheren Generation siegreich war, gegen die gerechte Sache kämpfen werden. Sie werden um des Kampfes willen kämpfen. Sie werden kämpfen, mit anderen Worten, aus einer gewissen Langeweile heraus: denn sie können sich nicht vorstellen, in einer Welt ohne Kampf zu leben. Und wenn der größte Teil der Welt, in der sie leben, durch eine friedliche und wohlhabende liberale Demokratie gekennzeichnet ist, dann werden sie gegen diesen Frieden und Wohlstand und gegen die Demokratie kämpfen. (Fukuyama, London 1992; S.330 … DeepL)

Man könnte sogar sagen, der Liberalismus wurde nicht nur von links UND von rechts angegriffen, …

„Die von der Rechten ausgehende Gefahr wirkt unmittelbarer und ist politischer Natur; die von der Linken kommende Gefährdung ist hauptsächlich kultureller Art und wirkt daher langsamer.” (Fukuyama 2022, S. 11)

… sondern auch aus seiner eigenen Mitte: der Neo-Liberalismus markiert gleichsam den Exzess der liberalen Ideologie und materialisiert die Zentrifugalkräfte des Erfolgs.

FF stellt ein Zitat von John Grey über die Grundzüge des Liberalismus an den Anfang. Darin geht es um eine Vorstellung vom Menschen in der Gesellschaft: „Sie ist individualistisch, insofern …”, „sie ist egalitär, insofern …”, „sie ist universalistisch, weil …” „und sie ist melioristisch (auf Verbesserung des Menschen ausgerichtet), insofern …” (S. 15)

Meist würde der Liberalismus der Demokratie untergeordnet; das seien aber zwei Paar Schuh! „Demokratie bezieht sich auf die Herrschaft des Volkes, die heutzutage durch ein allgemeines Erwachsenenwahlrecht …”, während der Liberalismus in dem von FF genutzten Sinn „… sich auf Rechtsstaatlichkeit, ein System formeller Regeln [bezieht], welche die Macht der Exekutive begrenzen, …” (S. 17)

Der Liberalismus sei in drei Aspekten legitimiert; erstens pragmatisch: er sei ein Mittel, Gewalt zu regulieren und das friedliche Zusammenleben disparater Bevölkerungen zu ermöglichen. Zweitens moralisch: er schütze die Würde des Menschen und insbesondere dessen Selbstbestimmung. Und drittens fördere er das wirtschaftliche Wachstum, indem er Eigentum und Handlungfreiheit besichere. In Summe sei er die

„Lösung des Problems der Herrschaft über die Vielfalt” (S. 22) „Der Liberalismus senkt die Temperatur der Politik, indem er die Frage nach dem Endzweck vom Tisch nimmt: Du kannst glauben was Du willst, aber Du musst dies in Deinem Prvatleben tun und darfst nicht versuchen, Deinen Mitbürgern Deine Überzeugungen aufzuzwingen.” (S. 22)

In der schnörkellosen Darstellung Fukuyamas erscheint der Liberalismus als glückliche Wendung der Geschichte, zumal er, in der Verbindung mit Demokratie, „die Ungleichheit, die der marktwirtschaftliche Wettbewerb mit sich brachte, [milderte]”. (S. 31) Der Wohlstand ermöglichte den Wohlfahrtsstaat, besorgte eine friedliche Umverteilung und verbesserte das Leben der meisten Menschen. Die Marx’sche Prognose von der „Verelendung des Proletariats” trat nicht nur nicht ein, vielmehr erlebten die Arbeiter kontinuierlich steigende Löhne und wurden zu Stützen des Systems. Bedauerlich nur, dass im späten 20. Jahrhundert der Neoliberalismus ins Extrem pervertiert sei.

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Ich halte inne und lasse das auf mich wirken. Stimmt schon, es geht uns gold. Scheinbar. Doch die Folgen davon – geografisch sauber outgesourced, so dass man nicht täglich daran erinnert wird – sind fürchterlich. Wir wissen das (mit einem Hinweis auf Frantz Fanon oder Edoardo Galeano). Auch das Eigentum und die Handlungsfreiheit sind nicht erst im Neoliberalismus entgleist (mit einem auf Hinweis auf Bernt Engelmann, „Das Reich zerfiel, die Reichen blieben”, Hamburg 1972), wir haben uns nur angwöhnt, nicht hinzuschauen. Anyway: Für den Nachweis eines liberalen Scherbengerichtes müssen wir weder die Historie noch die „dritte Welt” bemühen. Ein Blick in die einschlägigen Reports zu Klima, Müll und Ressourcen genügt, um die systemischen Fremdlasten zu identifizieren, mit deren UpSide der Liberalismus seine Klientel satt und proper gehalten hat.

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Im zweiten Kapitel beklagt FF die Entwicklung vom Liberalismus zum Neoliberalismus – als eine Verirrung ins Extrem:

„Obwohl der Neoliberalismus zwei Jahrzehnte lang für schnelles Wirtschaftswachstum gesorgt hatte, trug er doch auch zur Destabilisierung der Weltwirtschaft bei und untergrub so den eigenen Erfolg.” (S. 40)
„Wieder lagen sie richtig mit der Annahme, dass die Mobilität der Arbeit den bereits erreichten Wohlstand steigern würde, achteten aber weniger auf die Folgen im Blick auf die Verteilung des Wohlstandes und die sozialen Rückwirkungen, die dadurch verursacht würden.” (S. 42)
„In vielen Ländern war der Aufstieg einer kleinen Klasse von Oligarchen zu beobachten - Multimilliardären, die es verstanden, mit Hilfe von Lobbyisten und durch den Kauf von Medienunternehmen ihre ökonomischen Ressourcen in politische Macht umzumünzen.” (S. 47)

Will man der ideologischen Parallaxenverschiebung des FF nicht auf den Leim gehen, muss man ins Detail gehen. Für ihn ist der Neoliberalismus ein missratenes Kind, dunkle Ursache aller Probleme des Liberalismus. Dessen Neo-Wachstum sei vergiftet und destabilisiere die Weltwirtschaft. Nunja: auch alles mögliche Andere hat die Weltwirtschaft destabilisiert – der Ölpreis-Schock, der Dot.Com-Crash, Corona, der Ukraine-Überfall, der Hamas-Terror, … – darunter auch die Finanzkrise 2008/2010. Und ja, die De-Regulierung begünstigte die streckenweise kriminelle, mindestens aber gemeinschädliche Ausnutzung ausbleibender Kontrolle. Es ist allerdings ein bewährt-böswilliges Unverständnis, der Theorie ihre mangelhafte Umsetzung anzulasten. Ich bin eher dafür zu gewinnen, solche Fehler zu identifizieren, die theoretisch und systemisch induziert sind, als operative Mängel zu beklagen – die es immer geben wird. Zu den systemischen Blindstellen des („liberalen”) Wachstums gehört die Tatsache, dass es schon immer gifitig war. Die Erzeugung von Fremdlasten – auch ein Begriff wie Mobilität der Arbeit versteckt das geschickt – zählt zu diesen strukturellen Fehlern des Liberalismus, weil er einer „freidrehenden Ökonomie” alles ermöglicht, was (gerade) nicht verboten ist. Vermeintlich auf der Habenseite die Steigerung des Wohlstandes” zu notieren, ist eine Potemkinsche Luftbuchung, die mit Unachtsamkeit bei der Umverteilung schön geredet wird (siehe den jährlichen Oxfam-Report). Noch so ein semantischer Trick ist es, von Oligarchen zu sprechen (als wäre der Neoliberalismus ein russisches Phänomen); und natürlich sind Multimilliardäre keine neoliberale Erfindung, siehe Rockefeller, Walton, Mars oder Carnegie …

Gemach: Es wäre ungerecht, Fukuyama schon nach den ersten zwei Kapiteln in die Tonne zu treten; was wir aber doch festhalten müssen ist, dass seine Position voreingenommen ist. Bei ihm hat der „ursprüngliche” Liberalismus stets einen rosaroten Farbstich, wobei historische (und globale) Kollateralschäden unerwähnt bleiben. Nachdem wir dem Liberalismus insoweit das Misstrauen ausgesprochen haben, hoffen wir auf ergiebigere Kapitel.

Autonomie – was dat denn?

Die Kapitel drei und vier nehmen das Individuum in den Blick. Dabei geht es um den Begriff der Autonomie, der einige Fussangeln aufweist. Gibt es das, das autonome Subjekt? Natürlich geht es dabei um die Freiheit des Handelns: „Das Subjekt tut, was es will.” Klingt besser, als es die Realität erlaubt. Vermutlich ist der Trapper in den Tiefen der Rocky Mountains von allen sozialen Anforderungen freigestellt und könnte, in dieser Hinsicht, nach eigenem Gutdünken handeln. Allerdings MUSS er essen, trinken, schlafen und überleben – „die Forderungen der Natur” sind unverhandelbar. In der Gesellschaft dagegen ist das Subjekt von mannigfachen sozialen Übergriffen beschränkt: Familie, Infrastruktur, Verfügbarkeit, Arbeitszeit, Verkehrsordnungen, Gruppendynaik etc.pp.; wo, in dem Umfeld, könnte sich Autonomie entfalten? Also: entweder schleicht sich der Säbelzahntiger von hinten heran, oder die Gesellschaft stellt Dich frontal.

Autonomie, als Konzept, ist fragwürdig, und höchstens insofern zulässig, als wir dem Subjekt eine basale körperliche Integrität zubilligen: „Ja, ich kann meine Hand heben …” Im Umkehrschluss wird also das Subjekt von der Gesellschaft gemassregelt und … Baaang! … seitdem streift „die Freiheit”, die Be-Frei-ung, durch die Kulissen.

„Rawls’ Liberalismus bietet eine philosophische Rechtfertigung für die Befreiung des inneren Selbst, … (S.79) „Der Rawls’sche Liberalismus begann ursprünglich als Projekt, die individuelle Wahlfreiheit gegen eine oppressive soziale Kontrolle in Schutz zu nehmen.” (S. 83)

Rawls „Theorie der Gerechtigkeit” erschien 1971 in den USA – nach dem zwei Dekaden maximalen sozialen Konformitätsdruckes die westlichen Nachkriegs-Gesellschaften kujoniert hatten. In dieser „Befreiungsbewegung” finden wir also die Wurzeln unseres „liberalen Verständnis” heute, wobei wir geflissentlich übersahen, dass die ökonomische De-Regulierung im hinteren Abteil der kulturellen Befreiung auf dem Trittbrett mitreiste. Der Neoliberalismus nutzte dann lediglich den Schwung des Pendels!

Stolperdrähte

Wir sind jetzt im fünften Kapitel „Der Liberalismus wendet sich gegen sich selbst”, und jetzt wird es interessanter. Bis hierher hatten wir den Liberalismus als gesellschaftliches Vademecum kennengelernt, unter dessen Ägide sich die Verhältnisse zum Besseren entwickelt hatten. Im Folgenden analysiert FF die Schwachstellen in Theorie und Praxis. Nicht wenige wurzeln in Axiomen und Vorannahmen:

„Liberale Theoretiker wie Hobbes, Locke und Rousseau, oder auch Rawls mit seinem »Urzustand«, gingen von einem Naturzustand aus, in dem sich isolierte Individuen freiwillig entschieden, in einen Gesellschaftsvertrag einzutreten, durch den die zivile Gesellschaft geschaffen werde.” (S. 92)

Wiedewiedwitt, das ist natürlich verblasener Unsinn: Selbst ein Warren E. Buffett spricht von der Geburtslotterie und meint damit, dass niemand Einfluss darauf habe, in welche Welt/Gesellschaft/Familie er oder sie geboren werde.

„Frühe kritische Theoretiker wie Charles W. Mills rügten Rawls, dass er es in seiner Theorie der Gerechtigkeit versäume, sich spezifisch mit einer der größten historischen Ursachen der Ungerechtigkeit auseinanderzusetzen, nämlich der Vorherrschaft einer »Rasse« über eine andere. Das war natürlich ein Grundprinzip und nicht etwa ein Fehler der Rawls'schen Methodik, da es seine ursprüngliche Position erfordert, die Individuen aller »kontingenten« Eigenschaften zu entkleiden.” (S. 93)

Ich gehe davon aus, dass … logisch: danach kannst Du alles behaupten. Man kann die „ursprüngliche” Gleichheit der Menschen nur behaupten, wenn man davon ausgeht, dass ihre tatsächlichen Lebensbedingungen kontingent sind. Das begründet der Liberalismus mit dem Eigentum und der Handlungsfreiheit: Jeder sei seines Glückes Schmied; also bitte!

Weniger eine Vorannahme als eine Vorbedingung des Liberalismus ist die Konsenspflicht. Wenn Du Deine Meinung nicht mit Gewalt durchsetzen darfst, musst Du überzeugen:

„Weil liberale Gesellschaften die staatliche Macht durch die in ihren Verfassungen verankerte Gewaltenteilung ebschränken, ist es sehr schwierig, die Politik oder die Institutionen zu verändern.” (S. 98) „Eine gerechtere Gesellschaft würde eine gewaltige und unaufhörliche Umverteilung von Macht und Wohlstand erfordern, der sich deren aktuelle Inhaber heftig widersetzen würden.” (S.98)

Wir wissen bereits, dass nicht allein die Gerechtigkeit sich schwer tut, auf die politische Agenda zu kommen, es genügt, dass Koalitionäre ihre Wiederwahl dadurch betreiben, sich jedem Vorhaben in die Speichen zu werfen.

„Ein weiterer Vorwurf gegen den Liberalismus betrifft das Gleichgewicht der Kräfte, das liberale Regierungssysteme bei der Ausübung der Macht voraussetzen, wodurch eine radikale Umverteilung von Macht und Wohlstand verhindert würde. Dieser Vorwurf mag bis zu einem gewissen Grad zutreffen.” (S. 106)

Ein demokratischer Wahlentscheid führt in dieses Dilemma, wenn keine einzelne Partei eine Mehrheit der Stimmen erhält. Zwar haben die Wähler dafür gestimmt, dass (bittesehr!) die Partei ihrer Wahl den politischen Prozess verantworte; doch sie bekommen eine Mischung, eine Koalition, in der antagonistische Positionen oftmals diese wie jene Lösungsvorschläge verhindern. Genau das haben die Wähler nicht gewählt! Es ist die Wirkung; die Ursache ist, dass wir, als Gesellschaft, uns nicht über die Wirklichkeit verständigen können.

„Die modernen Demokratien sind mit einer tiefen Erkenntniskrise konfrontiert.”  … „Tatsächlich gründet der moderne Liberalismus auf der Prämisse, dass sich die Menschen nicht über die endgültigen Ziele des Lebens oder eines Verständnis des Guten einigen werden. Der Postmodernismus hat uns jedoch weiter geführt, vom moralischen zum epistemischen oder kognitiven Relativismus, in dem selbst die Beobachtung von Tatsachen als subjektiv angesehen wird.” (S. 110/11)

Das Dilemma erscheint unauflöslich.
Einen schwerwiegenden Beitrag zu dem Verfall der Erkenntnisfähigkeit, man könnte auch sagen: zur Gegenaufklärung, haben die Wissenschaften selbst geleistet, allen voran die Wirtschaftswissenschaften. Zwar wurde in diesem Spezialgebiet der Sozialwissenschaften der weitestgehende Versuch unternommen,

„Theorien in abstrakten mathematischen Modellen zu formularisieren und sie durch die Entwicklung einer rigorosen empirischen Methodologie bestätigen zu wollen. … … Das hindert jedoch die Wirtschaftswissenschaften nicht daran, den Verlockungen von Macht und Geld zu verfallen.” (S. 117)

Diese Korruption ist politisch herbeigeführt, indem die Universitäten auf die Einwerbung von Drittmitteln verpflichtet wurden. „Wes Brod ich ess, des Lied ich sing.” Die Volksweisheit legt den Finger in die Wunde, wenn zwei hochqualifizierte Fachgutachter (jeweils) das Gegenteil behaupten, oder Studien den menschengemachten Klimawandel oder den Zusammenhang von Rauchen und Krebswahrscheinlichkeit leugnen. Inzwischen vergeht keine Weltminute, in der nicht irgendeine Trump’eske „freie Meinungsäusserung” den haarsträubendsten Unsinn behauptet – und mit der rückläufigen Fähigkeit, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden, verliert das Publikum, das sich verarscht vorkommt, zugleich das Interesse. „Die dritte grosse Bedrohung der Redefreiheit entsteht paradoxerweise aus der schieren Masse von Äusserungen, die das Internet möglich macht.” (S. 128) Das allein induziere eine massive Überfoderung „der Öffentlichkeit”, wurde es doch zunehmend unmöglich, den „diskursiven Sachstand” überhaupt nur zu kennen, geschweige denn richtige von falschen oder sogar gefälschten Sachverhalten zu unterscheiden.

„Dem Standardmodell menschlicher Erkenntnis zufolge, das der liberalen Aufklärung zugrunde liegt, sind Menschen rational: …” (S. 131) Sie würden beobachten, und daraus kausale Rückschlüsse und schliesslich theoretische Modelle ableiten.

Doch diese Vorstellung wackelt!

„Vielmehr setzten sie mit starken Präferenzen für die von ihnen bevorzugte Realität an und nutzten ihre beträchtlichen kognitiven Fähigkeiten, um bestimmte empirische Daten herauszufiltern und Theorien zu entwerfen, die diese Realität in einem Prozess stützten, der Motivated Reasoning genannt wird.” (S. 131) Heraus kommt dann, was wir auf der ganzen Welt beobachten: „Die Parteien auf beiden Seiten des Grabens haben nicht nur unterschiedliche ideologische Überzeugungen und unvereinbare politische Präferenzen, sondern nehmen auch völlig unterschiedliche Versionen der Realität wahr.” (S. 139)

Das Internet ist schuld; dass ich da nicht drauf gekommen war. Nein, das ist polemisch. FF gibt den fehlgeleiteten und falschen Entwicklungen, die auf den Versprechen oder Grundsätzen des Liberalismus fussen, breiten analytischen Raum. Betriebsblindheit – zumindest was die Gegenwart betrifft – kann ich ihm nicht vorhalten.

***

Es folgen mit den Kapitel acht bis zehn nun noch Passagen, in denen FF über Alternativen, das Problem der „nationalen Identität” und die Prinzipien einer wiedererstandenen liberalen Gesellschaft nachdenkt. Darin finden sich eine Reihe von Gemeinplätzen neben durchaus brauchbaren Hinweisen, so zum Beispiel auf den Widerspruch von (schier unüberwindlicher) nationaler Abgrenzung und transnationalen Regelungsanforderungen (etwa bei den Klimafragen). FF behauptet, dass die Probleme der demokratischen Gesellschaft nicht in irgendwelchen Verfahrensfragen gründen, sondern in der Qualität des Staates und seiner Administration. Ich schickte mich an, dem zuzustimmen, als mir auffiel, dass jene Qualität vom ausführenden Personal abhängt, … das aber auf der Grundlage von (fragwürdigen) Verfahrensfragen rekrutiert wird, darunter eine Kandidatenauswahl, die bottom up immer dirigistischer von oben erfolgen, je mehr Verantwortung auf dem Spiel steht. Auch hier finden wir uns an einer Firewall: diesseits die Theorie und jenseits die Realität.

„Neue Problemlagen wie der Klimawandel rufen gewaltige Konflikte zwischen den Generationen hervor, können jedoch nicht ernsthaft in Angriff genommen werden, weil sich fest etablierte Akteure - wie die Produzenten fossiler Brennstoffe und konservative Wähler, die die Wirklichkeit des Klimawandels einfach nicht wahrhaben wollen, mit aller Macht widersetzen. Der liberale Ansatz der vorsichtigen Reformen hat also völlig versagt, wenn es darum geht, Lösungen zu entwickeln, die dem Niveau der Herausforderungen gerecht werden, vor denen die Gesellschaft steht.” (S. 154/55)

Immerhin! Man kann also, bei aller Kritik, FF nicht so zusammenfassen, dass er nicht wüsste, was droht; für den Leser ist es ein besonderer Moment, wenn Raymond Geuss, ich zieh das mal vor, zu der gleichen Einsicht gelangt – und damit seinen Anti-Liberalismus begründet:

„Unsere Spezies begeht derzeit Suizid, indem sie unsere natürliche Umwelt zerstört. Man kann sich nicht vorstellen, wie die Katastrophe abgewendet werden könnte, ohne dass erhebliche Zwangsmaßnahmen gegen die Akteure und tonangebenden Institutionen unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems ergriffen werden. Der »Liberalismus« in dem Sinne, wie ich den Begriff in diesem Buch verwendet habe, ist auf die Unantastbarkeit des individuellen Geschmacks und der individuellen Meinung, auf die Notwendigkeit, ein Höchstmaß an ungehinderter individueller Wahl zu schützen, und auf das freie Unternehmertum verpflichtet. Jeder, der in unserer Welt einen gangbaren Weg von dieser Konzeption zu einer Situation sehen kann, in der wir das ökologische Desaster noch verhindern, hat ein bei weitem schärferes Sehvermögen als ich.” (Geuss, S. 238)

So sehen beide das Problem; Fukuyama jedoch muss man ankreiden, dass er keine Lösung anzubieten hat.

Das bestimmt denn auch mein zusammenfassendes Urteil: wer einmal in gut verständlicher Sprache und wohlstrukturierter Form über Wohl und Wehe des Liberalismus nachdenken möchte, bekommt hier eine fundierte, wenn auch nicht in allen Facetten vollausgeleuchtete Darstellung; es leistet auch (wo gesucht) einen Betrag zur eigenen Standortbestimmung.

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Ich hatte angekündigt, auf Raymond Geuss (RG) zurückzukommen. Da sein Ansatz biographisch ist und vor allem seine persönlichen Prägungen zum Massstab nimmt, verbleibt seine Darstellung, wiewohl diskursiv, zumeist unterhalb eines „allgemeinen, politischen Niveaus”. Es geht mehr um Haltung und Überzeugung, den Weg der Erkenntnis im Labyrinth der Anschauungen, und besonders auch um die Einstellung zu Autorität und Kritik.

Ich hatte erwähnt, dass Geuss in einer Art Jesuitenkolleg aufwuchs. Die Priester/Lehrer waren in ihrem Glauben so selbstbewusst und gefestigt, dass sie denkbare Zweifel aktiv thematisierten, zugleich philosophisch zerlegen konnten. So war das Internatsklima ebenso traditionell katholisch wie auch überraschend kritisch modern:

„Es gab keinen bestimmten Zeitpunkt, an dem ich ein Interesse für sein Werk gefasst hatte, vielmehr war Heidegger einfach zusammen mit Dostojewski, Nietzsche, Freud, Sartre und besonders Camus ein fester Bestandteil der Atmosphäre gewesen, die für uns alle in meiner Internatsschule die Luft zum Atmen bildete.” (Geuss, S. 211)

Eine ähnlich-breitbandige intellektuelle Atmosphäre an (deutschen) Schulen kann ich mir heute nur schwer vorstellen.

RG ist deswegen als komplementäre Lektüre zu FF interessant, weil er aufzeigt, wie er zu seinem Urteil (nicht! wie ein Liberaler zu denken) gekommen ist.

„Rawls hatte eine große Lücke gefüllt, die in der amerikanischen Ideologie existierte, und er füllte sie haargenau, indem er eine Theorie bereitstellte, die es einer auf massive reale Ungleichheit zutiefst eingeschworenen Bevölkerung erlaubte, mit sich im Reinen zu sein, weil die obszönen Unterschiede hinsichtlich es Reichtums, der Macht und der Lebenschancen in ihrer Gesellschaft sich als reine Oberflächenphänomene herausstellten, die jeder mit einem tieferen Verständnis als das erkennen würde, was sie eigentlich waren: bloßer Ausdruck einer profunden menschlichen Gleichheit.” (S. 176)

Schöner kann man kaum in eine Wade beissen.

Allerdings geht die Kritik weiter und benennt dabei genau jene Blindstellen, die bei FF zu Tage getreten waren:

„Ein souveränes Individuum ist eine Person, die einen freien Willen hat und der freien Zustimmung fähig ist, die weiß, was sie will und was sie denkt, und deren Behauptungen über das, was in ihrem eigenen besten Interesse ist, stets zu respektieren sind, weil sie selbst letzten Endes am besten darüber urteilen kann, worin dieses genau besteht.” (S. 50) Nur: wer weiss denn schon, wer er ist, was sie will und was in eurem besten Interesse ist? „In dem Maße, wie Menschen nicht immer die besten Kenner dessen sind, was sie wirklich wollen - und wir haben allen Grund zu glauben, dass dies in einem erheblichen Maße zutrifft -, sind sie auch nicht die besten Kenner dessen, was in ihrem eigenen Interesse ist.” (S. 63)

Damit fällt das ganze Gerede vom autonomen Subjekt in sich zusammen. Überdies hat die Gesellschaft als Korpus legitime Interessen, die mit dem liberalen laissez faire unvereinbar sind. „Bei bestimmten üblen Menschen werde die Diskussion wohl niemals ausreichen. Für sie könnten deutlich radikalere Formen der Umerziehung oder Therapie nötig sein, von denen zwar keine gänzlich ohne jedwedes diskursive Element auskäme, die aber Formen des Handelns seien, die über die einfache »freie Diskussion« hinausgingen und nicht darauf reduziert werden könnten.” (S. 66)

RG sieht grundsätzliche Schwächen im liberalen Konzept, wenn die idealisierte liberale Toleranz sich auf Neutralität herausrede, wo eine Entscheidung gefordert sei:

„Ansprüche auf Neutralität seien jedenfalls oft nur Ausreden dafür, eine Wahl getroffen zu haben, dabei aber nicht akzeptieren zu wollen, dass man genau das getan hat, und die Wahl so der Überprüfung zu entziehe. Außerdem würde keine noch so große Trickserei mit den »Bedingungen neutraler Diskussion und Beurteilung« ausreichen, um die realen Machtunterschiede auszulöschen.” (S. 67) Am Ende dieser Neutralität zeige sich aber auch, „dass der Liberalismus aus tiefsitzenden Gründen, die schon der Logik und der Struktur seines Ansatzes innewohnen, unfähig sei, sich zwischen zwei unvereinbaren Auffassungen zu entscheiden, von denen keine für sich genommen jemals zufriedenstellend sein konnte. (204)

***

Ich hatte oben bereits in der Diskussion über FF das in meinen Augen markanteste Zitat von RG eingeschoben: Mit liberalen Prinzipien ist die Klimakrise nicht zu lösen. Letztlich kommt FF selbst auch zu diesem Urteil, hofft aber doch darauf, den Liberalismus über die Klippe zu tragen. Angesichts der versammelten Kritik halte ich das „Ja, aber” für verwegen, wenn nicht unredlich, aber verständlich. Liberal, Konsens, Kompromiss, Freiheit, Toleranz …, diese Attribute sind „durch und durch positiv” besetzt und im sozialen Wertekanon mindestens ebenso anerkannt gut wie innovativ oder hilfsbereit.

Es kostet Kraft, sich aus dem weichen, warmen Bett dieser Konditionierung zu erheben und zu dem Schluss zu gelangen, dass damit keine Zukunft zu gewinnen ist. Fukuyama und Geuss haben mir dabei geholfen, mein lange schon waberndes Unbehagen zu einem Urteil zu führen.

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Francis Fukuyama, "Der Liberalismus und seine Feinde", Hamburg 2022
Raymond Geuss, "Nicht wie ein Liberaler denken", Berlin 2022