Die Demokratie in der Onkologie (Krise II)

Schwarzmalen versperrt die Aussicht

Wie geht das: Handeln?

03-04-2024
 

Viele rechte und populistische Reden verursachen Kopfschütteln: Was Unsinn!, wie kann man so ein wirres Zeug erzählen? Was, wenn diese Reden wohlkalkuliert sind? Entscheidend ist doch, was hinten raus kommt – oder?

Der Endkampf der fossilen Industrien

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Im ersten Teil dieses Essays ging es um die Frage: Was ist eine Krise und was macht sie mit den Menschen und der Demokratie? 

 

V. Der Deal

Über Donald Trump sagte Robert de Niro „He’s so fuckin stupid. He’s a fucking moron.” Der Gedanke mag einem schon mal unterkommen. Nach Formulierungs-versuchen wie:

„Wir sind eine Institution in einer mächtigen Todesstrafe. Wir tun das!”

werden inzwischen Demenz-Diagnosen diskutiert; nicht ganz einfach, politischen Unsinn vom pathologischen Wirrsinn zu unterscheiden.

Es muss aber nachdenklich machen, dass das Geschwafel 70 Mio Amerikaner davon überzeugt hatte, Trump ihre Stimme zu geben, und – wenn kein Gericht den Herrn aus dem Spiel nimmt – sieht es so aus, als würde (¿ihm?) das wieder gelingen. Nachdem die Washington Post ihm täglich – und in Summe über 20.000 – seine Lügen nachgewiesen hat, nach der Million Corona-Tote, nach den Anklagen und Prozessen und – nicht zuletzt – im Anbetracht seiner Rolle am 6. Januar 2021, ist jetzt Ende der Unschuld: niemand kann sich in ihm getäuscht haben wollen. Irgendwie schwingt ein spät-pubertäres „mir-doch-egal” mit: Criminals for President!

Man darf die „Habenseite” nicht ignorieren: reiche Amerikaner und Konzerne haben mit rund zwei Billionen Dollar von seiner Steuerreform profitiert, darunter – Öl-, Gas-, Bau- und Rüstungsunternehmen sowie Banken – und nicht zuletzt er selbst:

„Sie wird mich ein Vermögen kosten", sagte Trump noch kürzlich über seine Steuerreform, um seine Opferbereitschaft zugunsten Amerikas zu belegen. Doch das ist unwahr: Trump ist einer der größten Profiteure des Gesetzes. …
Durch diese und andere Erleichterungen könnte Trump - … - mindestens zweistellige Millionensummen sparen.”
(Quelle: Spiegel)

Doch der Blick auf’s Geld lenkt ab!

Langfristig entscheidend ist vielmehr, was Trump abseits der Legislative bewirkt hat: prospektiv werden die über 200 von ihm ernannten Bundesrichter und der auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte stramm rechts auslegende Supreme Court eine künftige republikanisch-legislative Arbeit zum Druchmarsch befähigen – andernfalls die Demokraten nach Kräften behindern.

Viele Kommentatoren sind sich darin einig, dass eine zweite Regentschaft Trump nunmehr unter sehr anderen Vorzeichen stehen würde: von einem Konsortium einschlägiger Think Tanks unter der Führung der Heritage Foundation wurden auf über 900 Seiten Strategien und sogar Personal-Pläne für seine mögliche zweite Präsidentschaft ausgearbeitet.4

Wir wunderten uns, wie sektenartig devot sich die Republikaner so hinter Trump versammeln konnten? Es ist ein Deal. Die Republikanische Partei hat sich nicht blind dem erratischen Geschwafel Trumps unterworfen, sondern die sorgfältige Planung der zweiten Präsidentschaft zur Bedingung gemacht. So gesehen und vom Ergebnis her betrachtet erweist sich zumindest die zurückliegende Amtszeit des Donald Trump als eine Art politischer Remake des „Pelican Brief”.

USA (II)

Als Deutscher und Europäer könnte man meinen: was gehen uns die Amerikaner an!
C’mon! Stellen wir uns nicht dümmer, als wir sind:

  • Die USA sind eine ansteckende Krankheit! Wenn sie niesen, bekommt der Rest der Welt einen Schnupfen, mindestens; die Diagnose gilt wirtschaftlich wie auch politisch, und als Militär- und Wirtschaftsmacht beeinflussen die USA das Weltgeschehen wie keine andere Nation; wörtlich! Die CIA hilft, wo sie kann.
  • Die bereits bekanntgewordenen aussenpolitischen Pläne zielen auf eine Veränderung der tragenden Rolle der USA in der NATO, mit gravierenden finanziellen und sicherheits-relevanten Folgen für Europa. Es steht zudem zu befürchten, dass auch eine von den Demokraten geführte Regierung künftig die pazifischen Interessen priorisiert.
  • Mit diesem eingeleiteten Shift – und im Übrigen einem machiavellistischen divide et impera – versinkt der politische Einfluss Europas in der Bedeutungslosigkeit, wenn nicht gar in kriegerischen Konflikten.

Überraschend kommt das nicht – doch auf nichts davon ist der Westen (hier: minus USA) wirklich vorbereitet. Die Implikationen des Wandels sind in den Köpfen noch nicht angekommen, weder politisch noch finanziell, weder militärisch oder gesellschaftlich. Es liegt nahe, wäre aber zu kurz gesprungen, die Bedeutung der US-Politik lediglich am national-geostrategischen Gerangel festzumachen. Im Hintergrund, und eben dafür steht (u.a.) die Heritage-Foundation, sind ganz andere Kräfte am Wirken.

Also cui bono?

Neben den bereits genannten Profiteuren, die Trump-Familie selbst, Unternehmen, die steuerbegünstigt Off-Shore-Kapital repatriieren konnten (darunter Apple, Google oder Pfizer …), zählen wohl auch Facebook und Fox zu den kurzfristigen, sozusagen quartals-opportunistischen Gewinnern. Man kann das beklagen, doch … eigentlich: so funktionieren die USA nun mal. Im Verlauf von Wahlkämpfen werden Spenden gegen Versprechen getauscht; es sind Wetten. Im Erfolgsfall müssen diese Wechsel mit Zins und Zinseszins rückgetauscht werden – business as usual. Die eigentliche Aufmerksamkeit sollte auf jenen langfristigen, strategischen Kräften liegen, die ein hochgradiges Interesse daran haben, dass die rechtspopulistischen, autokratischen und vor allem anderen auch legislativen und institutionellen Programme ins Werk gesetzt werden.

An diesem Punkt rückt die Polykrise wieder ins Bild. Wer wollte ernsthaft annehmen, dass die Global 2000 Unternehmen nicht wüssten, wie es um ihre Geschäftsmodelle steht: Noch bevor „die Menschheit als Ganze untergeht”, wären sie dran! Leugnen lassen sich die Klima- und die Polykrise nur noch vor Kameras und Mikrophonen: in der Vorstandsetage kommt damit niemand mehr durch.Die führenden Unternehmen sind zwar unterschiedlich betroffen: CO2-Emissionen verursachen alle, aber Apple sicherlich weniger als Amazon, ExxonMobile mehr als Verizon; es zählen also nicht alle zu den Top 1000 der Krisentreiber – nur: wenn einmal die wirklichen Dickschiffe vom „absaufen” bedroht sind, wird das Stichwort „system-relevant” neuerlich die Runde machen. Perspektivwechsel:

Dreht man die Drohkulisse um und betrachtet sie aus der Sicht jener Unternehmen, die ohne Dreck und Fremdlasten keine Gewinne machen – so sehen sich diese Unternehmen zweifellos im

Endkampf!

Auf der US-amerkanischen Bühne geht genau dieses Stück in die Generalprobe. Da braucht es keine Verschwörung, um zu der Einsicht zu gelangen: Für die Uraufführung – und mehr noch die anstehende Spielsaison und den globalen Rollout – braucht es politische Führer, die der ihnen anbefohlenen Nation (zumindest einer Mehrheit) diesen Kampf als Notwendigkeit verkaufen; das ist – ökonomisch, politisch, kommunikativ – schlichte Logik.

 

V. Was tun – aber was tun??

Von allem materiellen Druck, den die USA sowieso ausüben, einmal abgesehen: die Logik macht sie zum Blueprint für das politische Geschehen in Europa (und Deutschland). Wollte man hier eine vergleichbare Entwicklung beenden/vermeiden/einhegen (keine Frage!), bestünde die vordringlichste Massnahme darin, den Rechten und Populisten die von ihnen gekaperten sowie die tatsächlichen! Probleme zu entreissen:

Die Demokratie hat erhebliche Defizite – und wer davor zurückschreckt, diese zu benennen, schlägt ihr zugleich die Sargnägel ein.5 Also mit offenem Visier, ja; doch das ist durchaus riskant, zumal in einer Medienlandschaft, die mehr damit beschäftigt ist, aus negativen Schlagzeilen Umsatz zu schlagen, als zur Überwindung der Probleme beizutragen. Und tatsächlich macht sich angreifbar, wer den benannten Problemen mit ungeeigneten oder gar bloss behaupteten Massnahmen begegnet.

Das Problem: Kommunikation!

Egal was, egal wo, Politik reguliert „andere”, ein Dilemma. Die meisten Problemlösungen können nicht von denen umgesetzt werden, die sie anbieten: Sollen die Heizungen weniger CO2 ausstossen, müssen die Hausbesitzer andere Heizungen einbauen, nicht der Gesetzgeber (als Institution;… als Hausbesitzer tut er das!). Sie müssen überzeugt werden, zu wollen was sie sollen. Das ist nicht unmöglich, aber ein schwieriges Geschäft: nicht so viele vollziehen mit wehenden Fahnen, was ihnen freundlich vorgeschrieben wird. Dann aber, gleichsam in der zweiten Instanz, kann man nur fordern, was man auch durchsetzen kann … und etwaige Zwangsmassnahmen oder gar physisch durchgesetzte Forderungen kommen gar nicht gut an.

Eine Regierung, die ihre Regularien nicht vermittelt, kann nur verlieren; die letzten Jahre haben das bebildert. Sie haben jedoch auch gezeigt, dass es gerade in der Branche der Vermittlung, also der Öffentlichkeit, institutionalisierte und frei schwebende Teilnehmer gibt, die gänzlich ohne Mandat Politik machen. Die SZ hat einmal aufgeschrieben, wie aus dem Gebäudeenergiegesetz der grossen Koalition(!) der „Heizungs-Hammer” (BILD-Zeitung) wurde – und zwar just als Robert Habeck mit einem durchgestochenen Entwurf dafür verantwortlich gemacht werden konnte – honi soit qui mal y pense. Vermutlich war der Entwurf schlecht, vielleicht grottenschlecht, vor allem aber war es eine Gelegenheit, dem alle überstrahlenden Kommunikator Habeck einen Zacken aus der Krone zu brechen. „Wer mit uns im Fahrstuhl hochfährt …” Der orchestrierte Geifer tropfte aus den Zeilen, Lautsprechern und Bildschirmen.

Das Beispiel ist paradigmatisch: Nicht der Klimawandel ist der Skandal, sondern der (… missglückte) Versuch, ihn einzudämmen. Um die Interessen der Gas- und Ölindustrie wider alle Vernuft durchzusetzen, werden Wähler so nachhaltig hysterisiert, dass der Einbau neuer fossiler Brenner in 2023 um fast 40% stieg, (Gaskessel 32%, Ölkessel um 99%). Dafür werden sodann das Klima, die Grünen und das Vertrauen in die Demokratie zur Kasse geführt. Die dringend nötige radikale Therapie des in Interessen verkeilten Gesellschaftsmodells trifft auf den erbitterten Widerstand all jener, die dabei etwas verlieren (oft genügt schon der Verstand). Überall steht irgendein Fass, dass gerade eben am Überlaufen ist.

Kommunikation!

Ja, klar – der jüngste „neue Wandel der Öffentlichkeit” ist vermutlich das grösste Problem der Demokratie! Zwar hat das Publikum die Phrasen satt, die Nullantworten, die Textbausteine, suhlt sich zugleich aber im asozialen Bullshit-Bingo, im Ablenken, Fingerpointen und Whatabout, in den Lügen und Fake News. Und grundsätzlich: WAS denn vermitteln? Die Textbausteine sind ja vor allem deshalb so hohl, weil es für eine nötige Therapie kein durchdachtes, gesamtgesellschaftliches Konzept gibt. Einzelmassnahmen ja, mitunter brauchbare, meist nur Trostpflaster; und keine davon (siehe Dieselsteuer, siehe Windräder, siehe Stromtrassen, siehe Endlager …) ist umsetzbar, ohne dass irgendeine gesellschaftliche Gruppe ihre Trecker auf die Kreuzung fährt.

On top die Globalisierung. Der Gesellschaft – der deutschen sowieso aber auch den europäischen – werden aus allen Richtungen Fremdlasten aufgebürdet: aus der EU, aus der Ukraine, aus Afrika, aus den USA …, die den Handlungsspielraum der Regierungen immer weiter einengen. Das hat Gründe: historische, ökonomische, geostrategische, tagespolitische, militärische sogar ökologische – nur sind sie kaum mehr vermittelbar.6

Legitimationsprobleme poppen überall auf: Warum kauft die deutsche Regierung für fast 20 Milliarden Euro F35-Flugzeuge und Chinook-Hubschrauber in den USA (auch Airbus bautsowas”)? Warum baut sie Terminals für LNG und fracking gas aus USA? Warum zerstört sie eins ums andere Mal die deutsche Solarindustrie? Warum subventioniert sie Flugzeugbenzin? … Oder nimm die Finanzen. Die deutsche Öffentlichkeit pflegt den Mythos, dass Deutschland ein reiches Land sei. Im Windschatten der Behauptung ist eine Anspruchsmentalität bis in die Haarwurzeln vorgedrungen. Aber wie kann man ein Land als reich bezeichnen, dass Jahr für Jahr namhafte Teile seiner konsumtiven Regierungsprogramme über neue Schulden finanzieren muss? Begegnet die Regierung ihren internationalen „Verpflichtungen” mit Kürzungen bei den nationalen Programmen, geht der Wutbürger auf die Strasse. Versucht sie es mit Schuldenaufnahme, steigt die Inflation und die Gewerkschaften spielen Grossbritannien. …

Das Lamento kommt nicht zum Ende, bevor nicht all die Fehler und Probleme auf’s Tapet kommen – für die zumindest keine Erklärungen angeboten werden: Warum kann Deutschland nicht genug Munition produzieren (Wo ein Wille ist …)? Warum kann ein Wirtschaftsministerium keine belastbaren Gesetze schreiben (Wo kein Wille ist …)? Warum weiss ein Verkehrsminister nicht, wie man Verträge aushandelt und absichert? Usw. usf..

Das Wunder der Nachkriegszeit war einfach: Es konnte nur besser werden! Heute kann alles nur schlechter werden. Eine überzeugende, etwaige Leiden verlohnende Zukunft ist nicht zu erkennen. In einer Situation, in der offenbar keine der „etablierten” Parteien eine Idee hat, wie die gordische Verwirrung zerschlagen werden kann, treten Hasardeure auf den Plan und jonglieren ihr „simplify politics” – mit Realitätsmodellierung, rückwärtsgewandten Rezepten und Schuldzuweisungen. Das hat schon beim Brexit ganz wunderbar funktioniert. Bleibt die Frage:

Was tun?

Soeben rückte Harald Welzer die Wirkungslosigkeit von Überzeugungen ins Bild und die „Ersetzung des Politischen durch Haltung”:

»Man kann ja voll gegen die Eskalation des Klimawandels sein, ohne auch nur einen Furz dagegen zu tun - und an dieser Stelle merkt Chefredakteur Peter Unfried an: »Da sind wir beide die besten Beispiele!« Guter Punkt: Denn die Substitution von Eingreifen und Handeln durch virtuoses Jonglieren mit halbgaren Begriffen und »das geht ja gar nicht« bedienen wir natürlich auch gern, ohne uns über die faktische Folgenlosigkeit unserer hübschen Anstrengungen Rechenschaft abzulegen.«

Kritik und Selbstkritik – na gut – aber stimmt es auch?

Handeln? Einfach nur irgendwas – das wäre Aktionismus, meist Stümperei und Dilletantismus. Nicht genug damit, neben der Qualität steht immer auch die Frage nach der Effektivität im Raum. Was bewirkt es denn: MEIN Tun?7 Es wirkt, schon, wenn der Einzelne etwas tut oder lässt – es ist aber doch eine Frage der Dimensionen: kratzt doch der Einzelne nicht mal an der Oberfläche der Probleme! Ist – vielleicht – die Übertragung des Politischen auf den Einzelnen nicht nur quantitativ unzureichend, sondern grundsätzlich falsch?

Wenn Harald Welzer „denkt, redet oder schreibt”, dann tut er schon das Richtige: Denken hat er immerhin gelernt. Er denkt nicht genug, vielleicht –, aber Denken ist Handeln!

Die Demokratie in der Onkologie

Die Demokratie in der Onkologie

Wenn es darum geht, die Krisen zu bewältigen, eine Autokratie abzuwenden und die Demokratie zu stärken, so stehen drei Handlungsfelder des Denkens im Vordergrund. Eigentlich müsste man mit den Medien anfangen, das geht aber erst dann, wenn man eine Perspektive anbieten kann, und über die kann man erst sprechen, wenn das Zerbrabbeln von allem und jedem aufhört. Deswegen:

  • die Demokratie beschränken;
  • die Zukunft erzählen;
  • die Medien zensieren.

Mixed Messages, fürwahr!

  • Es ist grober Populismus, dem demokratischen Votum alles unterstellen zu wollen. Fast ist es umgekehrt! Die Demokratie soll und muss die Leitlinien und Richtungen der Gesellschaft festlegen. Atomkraft Ja oder Nein. Laufzeitverlängerung Ja oder Nein. All das unterinformierte Getöse dagegen ist kontraproduktiv.
    Um, im Beispiel, die Energieversorgung sicherzustellen, verfügt die Gesellschaft weder über die Kenntnisse noch die Expertise, die Massnahmen überhaupt, geschweige denn richtig, beurteilen zu können. Dann soll man sich halt schlau machen?! Erstens geschieht das nicht – „is einfach so!”. Zweitens gelingt es selbst ausgewiesenen Fachautoren nur ungefähr und nur wenn’s gut geht, eine Sachlage zu vermitteln. Die wirklich relevanten Details verstecken sich in komplexen Wirkungsketten mit mehrdimensionalen Pros und Cons (darunter materielle (physikalische), finanzielle, zeitliche, kommunikative…), und es braucht eine langwierige Ausbildung und meist noch längere praktische Erfahrungen. Hinzu kommt der Einfluss der vielfältigen Interessen auf alles und jedes. Nicht zu reden von der gruppendynamischen Meinungsbildung.
    Um das allgemeiner zu formulieren: In einem breiten Spektrum von Fachlichkeiten hat die öffentliche Meinung nichts zu suchen. Die Lobbies natürlich auch nicht!
    Die Bevölkerung traut dem Prozess und den Entscheidungen nicht – daher die Forderungen nach Bürgerbeteiligung. Es ist durchaus ein Problem, auf der Ebene des „Gemeinwohls” zu abgewogenen Fachentscheidungen zu gelangen – daher die Forderung nach echter Expertise in der Entscheidungsvorbereitung. Hier liegt der Hase im Pfeffer: Expertise findet sich in den (im Beispiel) Energieversorgern oder in den Wissenschaften, die die Grundlagen der Expertise in Forschung und Lehre erarbeiten. Beide Gruppen verfolgen ihre höchst eigenen Interessen (Profite, Karriere, Status, Eifersucht und Eitelkeiten), bevor sie beim Gemeinwohl ankommen.
    „Die Politik” hat immer mal wieder versucht, einzelne Sachentscheidungen von Kommissionen oder Beiräten vorbereiten lassen. Mal scheitert das an hinreichend neutralen Personen, mal scheitern die Personen an den Medien, am Ende werden die Empfehlungen in der medialen Diskurssäge gesliced. Plus: auch wohl abgewogene Entscheidungen produzieren Betroffene!

    In anderen Worten: Für Denker und Forscher bietet sich hier ein anspruchsvolles Terrain:
    – Aus welchen Fragen sollte das Publikum – bitte sehr – seine  
       unqualifizierte Meinung heraushalten?
    – Und welcher Personenkreis – bitte sehr – erscheint integer und
       geeignet, welche Fragen zu behandeln? 
    – Und wie – bitte sehr – mündet diese EXPERTise dann auch
       tatsächlich in Entscheidungen?
    – Und wie – bitte sehr – werden Entscheidungen umgesetzt,
       ohne verwässert oder konterkariert zu werden?
    – Und wie – schliesslich – werden alle Betroffenen
       (überzeugend) entschädigt – ohne dass „letzte Verweigerer”
       überproportionale Vorteile realisieren?
    Die Demokratie ist nicht nur zu langsam – auch der Gesellschaftsvertrag erodiert. Wenn gesellschaftliche Gruppen nur solche wissenschaftlichen Ergebnisse akzeptieren, die ihren Vorstellungen entsprechen, sind die Parameter jedweder Entscheidungsfindung zerrüttet. Trägt das demokratische Subjekt die Entscheidungen des demokratischen Prozesses nur, solange es von negativen Folgen verschont bleibt, erscheint jede Entscheidungen undurchsetzbar. Kommt das nicht ins Lot, ist die Demokratie verloren.
     

  • Fachfragen sind nur ein Teil des Problems! Der Trend zu Kommissionen oder Beiräten speist sich auch aus der Tatsache, dass die allermeisten komplexen Fragen in fürchterliche Sackgassen oder Double Binds führen: Umweltschutz oder Arbeitsplätze, Schulden oder Sozialkürzungen, Waffenlieferungen oder Verhandlungen …  Und dahinter lauern die Generalstabsfragen: Zu welchem Ziel und wie soll das gehen?
    In nahezu allen Krisen-bewehrten Fragen geht es darum, welche Gesellschaft, welche Ökonomie, welche Verfassung wollen, sollen, müssen, können wir anstreben – in einem Begriff: es geht um das Narrativ der Gesellschaft. Seit Jahr und Tag wird der Begriff inflationär entwertet. Inzwischen ist es bereits ein Narrativ, wenn die Gewerkschaft ihre Tarifforderungen vorträgt oder die Kids sich eine Ausrede für die geschwänzte Stunde ausdenken. Das heute wirklich fehlende Narrativ beschreibt eine globale Gesellschaft, in der ein (relativ) angenehmes Leben für die lebenden und kommende Generationen möglich ist.

    – Wie viel Bevölkerungswachstum – gerade in den
       aufstrebenden Ländern – verträgt der Planet ohne
       ökologischen Kollaps?
    – Wie geht Produktion ohne CO2 oder andere Fremdlasten?
    – Wie geht brauchen und verbrauchen (möglichst) ohne Müll und
       zumindest mit (echtem) Recycling?
    – Wie geht Ökonomie ohne Erwerbsarbeit?
    – Wie geht Digitalisierung ohne Datendiebstahl?
    – Wie geht KI, ohne dass der Mensch zum Haustier wird?
    – Wo ist die Grenzlinie zwischen Befolgen müssen und Einfluss
       nehmen? Usw.. und wie geht all das im globalen Massstab?

    Für die Fülle dieser und anderer Fragen finden sich in den bekannten Mustern von Demokratie oder Autokratie, von Kapital oder Arbeit, von links oder rechts … keine tragfähigen Antworten.
    Es stehen aber nicht allein Sachfragen im Hemd da: die globalen Ungleichzeitigkeiten stehen für himmelschreiende Ungerechtigkeiten. Die emerging economies sind die derzeit und künftig grössten CO2-Emittenten und Katastrophentreiber. Sie verweisen mit Recht und Unrecht darauf, endlich auch eine akzeptable Lebensform erreichen zu wollen.
    Mehrere objektive Krisen bedrohen aus vielen Richtungen gleichzeitig das Leben, das Überleben und jedenfalls die Wohlfahrt. Ein konsistentes Konzeptes, das diesen Krisen eine Perspektive entgegensetzt, ist nirgendwo zu erahnen. Neben den alltäglichen Nöten treibt dieser Mangel eine Art kollektive Verzagtheit und (LETZTE Generation, EXTINCTION Rebellion) sogar Verzweiflung. Die ihrerseits jenen Hasardeuren und Rattenfängern Gehör verschafft, die Krisen einfach wegbehaupten. Donald Trump ist 77. Nach ihm die Sinflut.
     

  • Im Verlauf der Wahlkämpfe 2016 (auch 2020) haben fast alle US-Medien versucht, mit Recherche und Aufklärung den politischen Unsinn Donald Trumps transparent zu machen. Die Wahlempfehlungen waren eindeutig: „Clinton: 466 – Trump: 24. Ginge es nach der Anzahl der Wahlempfehlungen von Zeitungen und Magazinen, hätte Hillary Clinton den Sieg schon längst in der Tasche.” 2016 hat dieses aufrechte Engagement dem Team Trump im Effekt 500 Mio Dollar an Wahlkampfgeldern eingespart (er gewann mit 600 Mio Einsatz, Hillary Clinton verlor trotz 1.100 Mio Einsatz): die Negativ-Kampagne haben seine Wähler zu seinen Gunsten ausgelegt. Bis heute, so scheint es, haben die (US-)Medien nichts daraus gelernt. Oder doch?
    Hat man sich erst einmal im Zynismus hinreichend bequem eingerichtet, könnte man speziell diese Entwicklung auch anders verstehen: Mit feinem Gespür haben die Medienverantwortlichen lediglich die Angst- und Sensationslust ihres Publikums bedient und mit Schlagzeilen Auflage gemacht.
    Deutsche Medien sind nicht minder zynisch: negative Schlagzeilen, Ängste und Drohungen verkaufen sich besser. Ihr selbsterteiltes politisches Mandat üben die Medien8 keineswegs nur im Wahlkampf aus. Nachdem die FAZ die Ampelkoalition, i.e. die Grünen und die SPD, in Grund und Boden kommentiert haben (und sie nur u.v.a.), fragen sie nun scheinheilig: „Warum die Grünen an Ansehen verloren haben”. War früher das Verschweigen und Ignorieren die Paradedisziplin der Gatekeeper, erweist sich inzwischen das politics bashing als journalistisches Fitnessprogramm: morgens 15 Minuten schlecht reden, damit der Kreislauf in Gang kommt.
    Die journalistische Arbeit folgt bewährten Mustern:

    – Der investigative Journalismus. Sucht nach Schweinereien im
       Politikgeschäft. Die Rubrik war erfolgreich, solange das
       Publikum bereit war, politische Fehlleistungen,
       Betrugsversuche, Korruption, Vertuschung oder ähnliche
       Dunkelgeschäfte abzustrafen. Tempi passati: »Donald Trump:
       „I Could ... Shoot Somebody, And I Wouldn't Lose Any Voter”«

    – Die Vorberichterstattung. Sie ist vor allem deswegen so beliebt,
       weil sie – ohne Ergebnis – niemanden Interessiert, und man so
       der journalistischen Sorgfaltspflicht hemmungslos
       nachkommen kann, ohne irgendwas Relevantes anzubieten.
    – Der Verschleppungsskandal. Hier wird die Frage beantwortet,
       wem man was anhängen kann, nachdem etwas passiert ist,
       das hätte verhindert werden können, wenn … die Prozesse
       nicht wären, wie sie sind. Die Schuldfrage ist immer geil.
    – Die Betroffenenberichterstattung. Es ist das bevorzugte
       Instrument aller Identitätspolitik und wird stets dann gewählt,
       wenn eigentlich eine politische, strategische, systemische
       Analyse gefordert ist. Irgendwer ist immer zu kurz gekommen.
    – Die Königsdisziplin jedoch ist süffisant-bösartige Headline,
       gefolgt vom Zerreden, Bezweifeln und Deligitimieren. Wer
       einen Vorschlag macht, der noch nicht in trockenen Tüchern
       ist, ist selber Schuld. In diese Kategorie gehört aber auch der
       Zweifel an einer getroffenen Entscheidung: Bei jedem
       Kompromiss lassen sich genüsslich Schwachstellen und
       vermeintliche Fehler kommentieren (kann ja nicht anders sein);
       das kostet Überzeugungskraft und Wirkungsgrad, und wenn es
       besonders gut schief geht, muss eine Entscheidung
       zurückgenommen werden. Hilfreich ist auch die ausgewogene
       Berichterstattung: wenn Klimaforscher und Klimaleugner
       „gleichgewichtig” zu Wort kommen. Im Gutachtergeschäft
       kommt man sogar ohne Leugner aus: Professor eins, vielleicht
       von der TU Berlin, hält die Atomkraft für gefährlich, Professor
       zwei, sagen wir von der LMU München, erklärt sie für sicher.

    Die Schwächen und Abgründe der Medien sind nicht zuletzt Folge der Digitalisierung (Verlust des Anzeigengeschäftes) und der asozialen Medien (Verlust der Scham). Der Schaden ist angerichtet, ihn zu beklagen hilft kaum weiter. Solange die Medien ihre Brötchen am Markt verdienen müssen, geht es ums Business. ClickBaiting verkauft, Sex, Skandal, Negativ-Schlagzeilen, all das verkauft; was verkauft ist gut. Auch der Installateur will (über-)leben – und verbaut Ölheizungen. Man kann es ihnen nicht einmal vorwerfen, man kann es nur regulieren. Das Skandalon ist, dass die „raisonnierende Öffentlichkeit” (Habermas, 1962), die eine demokratische Meinungsbildung ermöglichen soll, dem „neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit” (Habermas, 2021) ausgesetzt ist.
    Dafür gibt es eine Lösung: man könnte die qualitative Meinungsproduktion komplett in den öffentlich-rechtlichen Raum überführen. Ich habe dafür bereits früher pladiert, einsam, bis Precht/Welzer („die Vierte Gewalt”, Frankfurt 2022, S. 265) auf die gleiche Idee kamen. Auch das Konzept hat seine Schwächen (darunter die Quote); man müsste ins Detail gehen.
    Für die asozialen Medien, die in diesem Jahr mit russischen, chinesischen und sonstigen KI-Kapagnen (weltweit) die Wahlen bedrohen – nein: die Demokratie selbst –, ist dagegen keine elegante Lösung in Sicht. Die Folgen kann man dann – nachher – beklagen und betrauern, oder man kann sie abschalten; die Diskussion darüber wird bereits geführt!

 

VI. Habe nun, ach! …

… beschränken, erzählen, zensieren … machen wir uns nichts vor: Es sieht danach aus, als wollten Liberale eher dem Untergang der Demokratie zuschauen, als sich auf eine Agenda einlassen, die nach ihren Grundüberzeugungen greift. Eine Generation, die jenen abgeschworen hat, denen der Zweck die Mittel heiligt und nach deren Credo der Weg das Ziel ist (sein soll), erstarrt im Double Bind, wenn die Logik der Zeitläufte ihnen neue Einsichten abverlangt. Schlimmer: wer wollte garantieren, dass sie nicht konvertieren, wenn der Druck zu gross wird?

Drehen wir diese Abwärtsdiskussion: Beschränkungen und Zensurmassnahmen lassen sich als Notwehr vielleicht rechtfertigen, und vermutlich darf man davor nicht zurückschrecken. Aber es sind allemal Massnahmen der Schwäche, nämlich der fehlenden Überzeugungskraft. Denn so muss man die rechte, populistische und faschistische Drift doch deuten: auch sie ist eine Art kollektiver, affektiver Notwehr. Im Angesicht der existentiellen Bedrohung der Polykrise überzeugt der bestehende Gesellschaftsentwurf nicht mehr; „Das spürt das Volk” – und folgt lieber den Propheten der rückwärtsgewandten Regression, als das ziellose politische Herumlaborieren auszuhalten.

Harald Welzer hat recht, wenn er selbstkritisch „die Substitution von Eingreifen und Handeln durch virtuoses Jonglieren mit halbgaren Begriffen und »das geht ja gar nicht«” beklagt. Eingreifen und Handeln aber heisst: einen tragfähigen Gesellschaftsentwurf erarbeiten. Sicher: ein Harald Welzer reicht dafür nicht.

 
 

4 Diese und andere konservativen Analysen und Pläne hat übrigens die Konrad-Adenauer Stiftung zusammengefasst und mit sorgengefurchter Stirn kommentiert (sogar die!).
5 Um das klarzustellen: ich bin, bekanntlich, ein Feind der Demokratie, weil sie ineffektiv und zu langsam ist, selbst die Probleme, die sie angeht, nicht löst und in ihren ritualisierten, verkarsteten Strukturen alles andere als demokratisch ist – um nur ein paar Probleme zu nennen! Mich interessiert eine reformierte, vielleicht revolutionierte Demokratie auf der Höhe der Zeit, möglicherweise mit techno/autokratischen Regularien, wo es um die Überlebensfragen geht – und eine Formel dafür ist tatsächlich nicht leicht zu finden.
6 Nochmal der Blick in die USA: Warum eigentlich, fragte Trump, sollen die USA überall auf der Welt die Sicherheit bezahlen, während im eigenen Land die Infrastruktur verrottet? Dass die USA ihre 3,24%-BIP-Militärbudget nicht nur „für die NATO” sondern in aller Welt auf den Kopf hauen, für Flotten, Stützpunkte, Kriege und Interventionen: Feinheiten. Auch die komplexen Begründungen dafür – vom Dollar, über die Auslandsinvesititionen bis zu geostrategischen Interessen – sind für rural America schlicht zu hoch.
7 Beispiel Fleischkonsum: in Deutschland ist der in den letzten 30 Jahren um fast 20% zurückgegangen (Quelle), um 15% allein in den letzten vier, fünf Jahren; sie einer an! Weltweit jedoch hat er sich seit 1990 verdoppelt (Quelle), in den letzten zehn Jahren um 23%.
8 Der Sammelbegriff „die Medien” ist äusserst diffus und fragwürdig; erst eine breite und langfristige Untersuchung könnte Aussagen über „die Medien” rechtfertigen. Dass ich ihn dennoch „für eine Sammelklage” benutze, reflektiert selbstredend nur Eindrücke aus meinem eigenen Medienkonsum: FAZ, ZEIT, DLF, div. Podcasts, sowie Welt, Anne Will, Maybritt Illner, gelegentlich Zeitschriften und einige internationale Medien. Auf Facebook folge ich ein paar ausgesuchte Denker und Blogger, die i.d.R. differenziert kommentieren; die übrigen asozialen Medien begegnen mir zumeist im Hörensagen. Insofern sind meine Äusserungen dazu unbelastbar.