Ton oder Sound

Der soziologische Wagnerianismus – zu "Muster" (1)

Armin Nassehi vs. Musik

14-09-2019
 

Kate Bush zählt zu den Heroinnen meiner Musikerfahrung. „The Dreaming“ und „Hounds of Love“ haben mich über Jahre begleitet. Zufällig annonciert arte ein BioPic zu Kate Bush, das die Erinnerung belebt und mich nach langer Abstinenzt veranlasst, Kate wieder einmal durch meine Sensoren zu schicken.

Nassehi versus Bush (© Stephen Luff; Raimond Spekking-Wikipedia commons)

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"In der Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins hat Husserl das Hören einer Melodie phänomenologisch beschrieben. «Die Sache scheint zunächst sehr einfach: wir hören die Melodie, d. h. wir nehmen sie wahr, denn Hören ist ja Wahrnehmen. Indessen, der erste Ton erklingt, dann kommt der zweite, dann der dritte usw. Müssen wir nicht sagen: wenn der zweite Ton erklingt, so höre ich ihn, aber ich höre den ersten nicht mehr usw.? Ich höre also in Wahrheit nicht die Melodie, sondern nur den einzelnen gegenwärtigen Ton. Daß das abgelaufene Stück der Melodie für mich gegenständlich ist, verdanke ich - so wird man geneigt sein zu sagen - der Erinnerung; und daß ich, bei dem jeweiligen Ton angekommen, nicht voraussetze, daß das alles sei, verdanke ich der vor-blickenden Erwartung. Bei dieser Erklärung können wir uns aber nicht beruhigen, denn alles Besagte überträgt sich auch auf den einzelnen Ton. Jeder Ton hat selbst eine zeitliche Extension, beim Anschlagen höre ich ihn als jetzt, beim Forttönen hat er aber ein immer neues Jetzt, und das jeweilig vorausgehende wandelt sich in ein Vergangen. Also höre ich jeweils nur die aktuelle Phase des Tones, und die Objektivität des ganzen dauernden Tones konstituiert sich in einem Aktkontinuum, das zu einem Teil Erinnerung, zu einem kleinsten, punktuellen Teil Wahrnehmung und zu einem weiteren Teil Erwartung ist.» 

Was Husserl hiermit beschreibt, ist die Tatsache, dass die Töne selbst, also das jeweilige Tonjetzt in seiner konkreten materialen/physikalischen Gestalt, weder Ton noch Melodie ist und letztlich keine Bedeutung hat. Diese wird erst durch das wahrnehmende/erkennende/hörende Bewusstsein gegeben, und zwar ursprünglich in dem Sinne, dass die Melodie eben nicht als solche wahrgenommen, sondern durch die zeitfesten Fähigkeiten des auch stets nur in konkreten Gegenwarten operierenden Bewusstseins konstituiert wird. Das gilt für Melodien ebenso wie für Sätze, aber auch für die Dingwahrnehmung, die aus einzelnen urimpressionalen Wahrnehmungen eine Gestalt erzeugt, die in besonderer Weise sowohl in der Welt ist, als auch durch das erkennende Bewusstsein erzeugt wird. Die Weltlichkeit der Welt ist in diesem Sinne ein Aktkorrelat des Bewusstseins.“ Nassehi, Muster (S. 76/77)

Die Differenz zwischen dieser analytischen und meiner sensorischen Herangehensweise veranlasst mich zum Nachdenken. 

Zunächst erscheint mir Husserls Beschreibung, wie sie der letzte Satz des ersten Absatzes zusammenfasst, richtig; doch noch während ich das feststelle und aufschreibe, Kate Bush im Ohr („Misty“), kann ich schlicht keine Verbindung herstellen. Nassehi findet bei Husserl einen ersten Beleg für seine These, dass es einen vor-existenten mentalen, digitalen Resonanzraum gibt, der die Einzelereignisse zusammensetzt und zu einer disparaten Erscheinung aus Gewesenem, Bestehendendem und Kommendem kompiliert. Das aber erlebe ich nicht. Die zentrale Beobachtung meines eigenen Erlebens besteht darin, dass ich keine Einzeldaten wahrnehme, sondern vielmehr einen Flow. Selbst jene Ereignisse wie das Anschlagen eines C hat in meinem akustischen Scan keine digitale Erscheinung mit Anfang und Ende, sondern besteht in einem ununterscheidbaren Ablauf ineinander fliessender Geräuschcluster, die auseinander zu nehmen zu einem ähnlichen Paradox führt, das Achilles mit der Schildkröte widerfahren ist. Mehr noch: immer ist jede akustische Wahrnehmung gerahmt von optischen und anderen sensorischen Eindrücken und konkurriert um meine Aufmerksamkeit, die sich sequentiell ihr zu und von ihr abwendet. Doch sogar wenn ich schaue, höre ich; ein Sachverhalt, der für sich stehend bereits ANs Digital-These unterspült.  

Die Erfahrung, dass die analytische Musikbehandlung den Gegenstand verfehlt, habe ich erstmals im Musikunterricht erlebt. Herr Oberstudienrat Wagner zerlegte die Fünfte Beethovens in seiner Stunde in Quarten oder Quinten, Viertel oder Achtel, Melodien und Reprisen, 22 Mal plärrte der Dual-Plattenspiel an seinen 16 cm Zweikanal-Böxchen in den  5m hohen, 100 m2 grossen Musiksaal hinein: tatatataaa, und am Ende war Beethoven so tot wie seit 146 Jahren nicht mehr. Ich habe mich ein Leben lang nicht von dieser Stunde erholt: die Fünfte ist für mich wie ein Fladen Erbrochenes. Eine Musik (zu welcher Erkenntnis hin) von ihrem emotionalen Resonanzraum abzulösen, sie ihrer Transzendenz zu entkleiden, sie von ihrer Sexualität oder Spiritualität zu entbinden ist so vollständig sinnfrei – sogar und natürlich auch für ihren Erzeuger –, dass man der Motivation dieser Operation nachforschen muss.  

Und je mehr ich ANs Überlegungen nachspüre, desto falscher werden sie. Die Konstruktion eines Tonjetzt ist … wie lang? Eine Sekunde, eine halbe, eine hunderstel? Die Frage zertrümmert die Konstruktion in 1000 Teile! Aber auch der Grundgedanke, dass der Ton weder Ton noch Melodie ist, weil erst das wahrnehmende Subjekt das physikalische Ereignis rekompiliert, ist zutiefst tautologisch vergiftet. Nur der Mensch nennt einen Ton einen Ton. Musik ist der Begriff für einen Zeitablauf, in dem physikalische Ereignisse Änderungen des Raumzustandes herbeiführen; wenn aber kein Subjekt vorhanden wäre, das zu erzeugen/wahrzunehmen, ist es auch nicht sinnvoll, von Tönen oder von Musik zu sprechen: überhaupt ist es dann ziemlich still! 

 

Über die „zeitfesten Fähigkeiten“, die „urimpressionalen Wahrnehmungen“ und das „Aktkorrelat des Bewusstseins“ muss ich noch eine Weile weiter nachdenken.