Nukleare Teilhabe

WirrSinn

Blindstellen im Diskurs

03-05-2020
 

Ich weiss nicht, wie mir geschah – aber seit zwei, drei Jahren, vermutlich ausgelöst durch einen Mangel, haben sich Fragen der geostrategischen (Militär-)Politik in meine Aufmerksamkeit eingeschlichen; eigentlich das Letzte, was meine feinsinnig-kultur-philosophisch-zeitgeistige Pulsnahme etwas anginge.

Das also wären zwei Eurofighter

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Nee, ich lüge – ich weiss es doch: Die Orange und der kleine Raketenmann und jemand hatte mir das Büchlein „Unsere Frau in Pjöngjang“ empfohlen, ... und so kam eins zum anderen, und mit einem Mal war die NATO meine Baustelle. Seitdem bin ich bei meinen täglichen Medienausritten immer mal wieder mit dem Stolpern beschäftigt; so auch heute.

„In einer Zeit neuer russischer Aggressivität und wachsender Zweifel an Amerikas Verlässlichkeit bestätigt Washington damit, dass ein Angriff auf Deutschland ein Angriff auf die amerikanische Atommacht ist. Amerika kann Deutschland nicht im Stich lassen, denn es hat ein Pfand hinterlegt, das es nicht verlieren darf.
Hier beginnen die Einwände. Die Atombomben, die Amerika bereitstellt, sind relativ klein, und der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans sagt, dass Präsident Trump deshalb in Versuchung geraten könnte, sie wirklich einzusetzen. Dahinter steht eine alte Sorge. Die Nuklearmächte könnten einen Atomkrieg in Kauf nehmen, wenn er begrenzt wäre, zum Beispiel auf Deutschland oder Europa. Dann würden nicht Moskau und Washington zerstört, sondern Berlin und Minsk.“

Ich habe nichts gegen Konrad Schuller.
Das ist der Journalist, der die Zeilen oben für die FAZ („Zwei Schlüssel zur Bombe“) aufgeschrieben hat und damit eine Argumentationskette für und wider die sogenannte nukleare Teilhabe beginnt. Dieses Konzept müssen wir uns so vorstellen, dass eine Truppe US-Soldaten, ich meine, irgendwo stand: 700 Mann, am Standort Büchel auf die Munition aufpasst, um sie im Fall der Fälle an das taktische Luftwaffengeschwader 33 herauszugeben. Und die verteilen die Bomben dann gleichmässig über unsere russischen Partner und wo sie sonst noch hingehören.
Das zwangsläufige Aber, das nun folgt, hat mit Konrad Schuller nur nachrangig zu tun, denn es zielt zunächst auf den militär-strategischen Wahn, den er berichtet – und vielleicht nur am Ende auf die Akzeptanz, die der Autor in der Gegenüberstellung der Argumente für die Gegenüberstellbarkeit der Argumente offenbart. Amerika hat ein Pfand hinterlegt … – ich lach mich schlapp. … könnte in Versuchung geraten … als wäre es die zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt. … in Kauf nehmen, wenn er begrenzt wäre … Du-Du-Du, wehe Du gehst über die Linie hier … Politgefasel in der Zeitung für Deutschland: wie kann man das ernst nehmen, aufschreiben? Als wären ein Pfand, eine Versuchung, eine Begrenzung belastbare politische Kautelen (von der Trump-Administration nicht zu reden …); ein Federstrich hat mehr Gewicht. 

Tom Cruise
Hin und wieder donnern die Flugzeuge, von denen in dem Text die Rede ist, über mein Haus. Die Zeiten, in denen ich durch meine bereits knapp bevorstehende Meisterschaft beim Flugzeugquartett quasi Fachmann in allen relevanten Fakten war, liegen so lange zurück, dass ich für die Silhoutten heute eine Fortbildung bräuchte. Sind es Tornados? Eurofighter? F35? Keine Ahnung. Sie sind laut und schnell.

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Wenn die Piloten, die mit wer weiss wieviel Mach (1,5 bis 2,35) und Sauerstoffmasken diese Geräte bewegen, nur über ein paar blass-entfernte Charaktereinsprengsel von Tom Cruise verfügen – und also ihrerseits die funktionierenden Maschinenmenschen sind, als die sie ausgebildet wurden, so käme meine humanistisch-abendländische Lagebeurteilung schon in eine gewisse Schieflage: Würden diese Piloten ihre H-Bombenlast tatsächlich ausklinken? Wer sich in derlei Fragen einliest, lernt schnell, dass seit Jahrzehnten nicht mehr (plump fallende) Bomben das Massenvernichtungsmittel der Wahl sind, sondern Lenkwaffen, die eigenständig ein Ziel anfliegen können; aber sei’s drum: irgendwer muss auch die losschicken. Und wer würde billigend in Kauf nehmen, was im zweiten Absatz oben insinuiert wird, nämlich, dass ein begrenzter Atomkrieg die eigene Heimat vernichtet und Europa in einen Kontinent der Leichen und der Zombies verwandelt? 

Die Bundeswehr gibt an, welchen Aufgaben und Voraussetzungen ein/e „Kampfpilotin/Kampfpilot m/w/d“ genügen soll. Zur Ausbildung gehört ein Bachelor- oder Masterstudium an einer der zwei Bundeswehr-Universitäten. Im späteren beruflichen Alltag wird es zu „Übungen und Einsätzen“ kommen, bei denen „Sie […] Ihre Kenntnisse zu den mathematischen, physikalischen, meteorologischen, physiologischen und psychologischen Aspekten der Fliegerei an[wenden].“ 

Die Frage, die mich in diesem Zusammenhang bewegt, ist diese: Welche Art der cognitiven Zurichtung muss in so einer Ausbildung erfolgen, damit a) die Fähigkeiten, die zum Führen von 100-Millionen-$-Gerät (die Katalogpreise variieren, genannt werden ca. 50 bis zu „Systemkosten“ von ca. 180 Mio €) erforderlich sind, gefestigt werden, zugleich aber b) die Beurteilungsfähigkeit ausgeblendet, wenn nicht sogar verhindert wird, wenn es um die vorsätzlichen Folgen dieser Ausbildung im Enrstfall gehen soll? Auf welcher Vorstellungswelt fusst diese Argumentation? Wer sich ein wenig in der BW-Bubble umtut, beispielsweise einmal nachliest, was das German Institute for Defense and Strategic Studies, der ThinkTank der Bundeswehr, so alles publiziert, der stellt fest, dass dort die Vollpfosten in der Minderheit sind, sagen wir: zu sein scheinen, man steckt ja nicht drin. Soll sagen: Es gehören schon sehr ausgeklügelte Strategien dazu, einen kritischen Bürger in Uniform zum Master-Kampfpiloten zu qualifizieren, der im Zweifel den Knopf drückt.

Der eine Teil meiner Schieflage also rührt aus der Vorstellung, dass Menschen Knöpfe drücken – noch ist das so, und ich warte ja nur auf die Diskussion, diese Entscheidung einer KI anzuvertrauen … –, der andere aus der immanenten Logik des Themenfeldes. Mir wird um meine geistige Gesundheit bange, wenn ich am Stammtisch der Dr. Seltsams den rauchverhangenen Gesprächen folge, und alsbald weiss ich nicht mehr zu unterscheiden, ob nun die Spieltheorie der Aufklärung oder dem Untergang der Menschheit zu Hilfe eilt. 

Wie überhaupt soll man, kann man darüber sprechen?
Unter dem Titel „Bundeswehr sucht neuen Atombombenträger“ berichtet Gerhard Piper in einem schwerverdaulichen Longread (12.500 Wörter!) über alle denkbaren und undenkbaren Details dieser strategisch ja nicht eben nebensächlichen Fragestellung, bis hin zur Liste der Flugzeug-Kennungen. Dort lesen wir auch, was ich einerseits gerne glauben möchte, andererseits aber auch befürchte: "Sollten die Bundeswehr-Piloten im V-Fall einen Atombombenabwurf verweigern, könnten die in Büchel stationierten US-Atombomben auch durch US-Jagdbomber vom Typ F-16 eingesetzt werden. So ist auf der - mehr oder weniger - benachbarten Spangdahlem Air Base ("SP") das 52nd Tactical Fighter Wing (TFW) mit 4.500 Soldaten und 1.000 Zivilangestellten stationiert. Das Geschwader verfügt u. a. über die 480th Fighter Squadron "Warhawks" unter dem Kommando von Oberstleutnant Michael Richard mit bis zu 28 General Dynamics / Lockheed Martin F-16CM/DM (Block 50B/C/D) Fighting Falcon, die Wasserstoffbomben B61-3 und B61-4 einsetzen können." Die Detailversessenheit dieses Autors ist ohne eine gewisse, abgründige Faszination für seinen Gegenstand kaum erklärlich; immerhin aber erfahren wir nur so, dass die Amerikaner – offenbar – auch nicht an die Teilhabe glauben; und wer diese ganze Konstruktion nicht für eine Auftragsarbeit von Samuel Beckett hält, dem ist nicht zu helfen. 
An einigen Stellen könnte Konrad Schuller hier für seinen Artikel abrecherchiert haben, wenn auch mit einem anderen MindSet. Piper schliesst sein Feature mit dieser Passage: 

„Andererseits wird durch die zunehmende Hybridisierung der Kriegführung das operative-militärische Geschehen immer komplizierter, weniger überschaubar und damit weniger vorhersehbar und kontrollierbar. Dies wiederum steigert die Gefahr eines "irrtümlichen" Atomkrieges. In dem Fall kann man nur hoffen, dass möglichst alle Waffensysteme nicht einsatzbereit sind. Insofern ist die Bundeswehr unter Ursula von der Leyen auf einem guten Wege.“

Über derlei Einlassungen würde sich der staatstragende FAZ-Leser vermutlich mokieren, weil von  solchen persönlichen ../.. Befindlichkeiten ein der Objektivität verpflichteter Journalismus belastet würde; und so seh ich das auch: man sollte zu den Optionen des Weltuntergangs alle stakeholder zu Wort kommen lassen.  

Ernsthaft aber frage ich mich seit den eingangs erwähnten Ereignissen, wie man diese Verteidigungs-/Kriegsführungs-/Militärbudget-Diskussion überhaupt führen kann? Es hat ja seinen Grund, warum der liberal-bürgerliche Mainstream in die andere Richtung schaut, wenn das Thema aufkommt: Verteidigung, hhm, ja, zur Not, wenn’s sein muss, aber bitte: ohne Töten und wenn doch, dann nur unter der Führung dafür lizensierter Frauen, aber ohne Folter, mit Menschenrechten, ***-Gefangenenlagern und ganz gewiss ohne das Geld auszugeben, das den Armen und Notleidenden helfen könnte. 

Offenbar sind nur noch Menschen vom Verruchtheitsgrad eines Emmanuel Macron willens und in der Lage, den Salzfinger in die Frage zu stecken. Von Frau Merkel kann man ja gern auch mal eine gute Meinung haben, die Konsequenz jedoch, mit der sie wichtigen Diskussionen ausweicht (um einige davon nach Gutdünken mit einsamen Entscheidungen zu beenden), wie sie Macron in europäischen und eben auch militärstrategischen Fragen im Regen stehen lässt, wie sie schlechterdings alles unterlässt, was der Nation und/oder dem Kontinent eine Richtung weisen könnte, ist sträflich, unverantwortlich und, das zu schreiben fällt mir nicht leicht, verachtungswürdig. 

Aber ich schweife ab; was ich sagen will, ist dies: wer die bizarren, zynischen, irrlichternden Diskussionen über „das militärische Kalkül“ nicht hören will, muss sie selbst führen. Die Einstiegshürde liegt ziemlich tief; z.B.: Warum sollte der deutsche Staat deutsche Steuermilliarden für US-Flugzeuge ausgeben?