Martin im Herbst

Markus Feldenkirchen schreibt eine Reportage.

Vom Fallen der Blätter

03-10-2017
 

Nachdem ich die Schulz-Reportage gelesen habe, war mein erster Eindruck, dass Martin Schulz kein Kanzlerformat hat. Zu diesem Eindruck haben zwei Überlegungen geführt: Es ist ihm erstens nicht gelungen, die Bedingungen der Möglichkeit seines Erfolges herzustellen, und zweitens: er wusste es nicht.

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Die Reportage macht deutlich, dass Schulz ein beeindruckender Kämpfer ist, aber auch ein zu beeindruckender Gefühlsmensch. Vermutlich sind das zwei Seiten der selben Medaille. Er ist kein Stratege, kein Intellektueller, kein Autokrat. Es sind aber, mein Eindruck, genau diese Leerstellen, die wesentlich und zu Recht zu seiner Niederlage beigetragen haben: er hätte erkennen müssen, dass er eine Strategie braucht, die, nach kritischer Prüfung, in ihren Eckpunkten unumstösslich ist; er hätte sich ein Team zusammenstellen müssen, dass diese Strategie mit voller Überzeugung vertritt und er hätte ignorieren müssen, was unterwegs an Bedenkenträgerei querschiesst. Gewiss braucht es auch Kampfkraft und Gefühl, aber das sind die schwächsten Treiber auf dem Weg zu einer Kanzlerschaft (denn beide sind reaktiv). Wir haben von Christian Lindner keine vergleichbar intimen Kenntnisse, was wir aber von ihm gesehen haben sind exakt die Qualitäten, die Martin Schulz fehlen.

Nun, vorher ist man dümmer. Unterwegs zum 24. September verfügten wir über weit weniger explizite Kenntnisse von und über Martin Schulz; zugleich aber ist vieles, was die Feldenkirchen-Reportage offenlegt mehr eine Bestätigung dessen, was auch ohne diesen Text zu sehen, zu ahnen, zu fühlen und zu analysieren war. Es war keine Offenbarung, und sensationell ist eigentlich nur, dass wir Ahnenden in diesem seltenen Fall zeitnah unsere Mutmassungen bestätigt bekommen (ein Sachverhalt, der üblicherweise Jahre, wenn nicht Jahrzehnte auf sich warten lässt, und ohne eine solche Bestätigung in einigen seiner Aspekte einer Verschwörungstheorie zumindest nahe kommt).

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Jenseits ihrer Intimitäten zeigt die Reportage zugleich wenigstens zwei fundamentale Schwachstellen unserer Demokratie, und ich weiss nicht, von welcher die grösseren Gefahren ausgehen:
– Wenn ich einmal das herdenartige Verhalten der Medienöffentlichkeit als „Journaille“ zusammenfasse, so repräsentiert die Journaille sicher eine der grössten Gefahren für die demokratischen Grundfesten. 

Das hat mehrere Aspekte: Den Kandidaten „vor der Zeit“ hochzujazzen und mit gnadenloser Einmütigkeit sodann sukzessive wieder runterzuschreiben (- senden, -reden …), dieses „hunting in packs“, letztlich gleichgültig in welche Richtung und fernab der eigentlichen gesellschaftlichen Aufgabe (Information, Aufklärung, Diskurs …), gehört, meine Meinung, zu den widerlichsten und gemeinschädlichsten Erscheinungen der bestehenden Medienöffentlichkeit. Ein anderer Aspekt ist die Ritualisierung, (etwa) mit der konsequent zur falschen Zeit die falschen Fragen gestellt werden (sei es, dass jene Fragen, die offensichtlich und notwendig sind, mit Vorsatz vermieden werden – wie im Duell –, oder sei es, dass nach Koalitionen oder Personalien oder sonstigen Sachverhalten gefragt wird, zu Zeitpunkten – am Wahlabend –, zu denen SICHER keine Antworten gegeben werden könnten). Oder, dritter Aspekt, das „investigative“ Aufdecken von Unfertigkeiten, ein probates Mittel, um ganz sicher jede mögliche Änderung vor der Zeit zu zerreden.

– Die andere massive Gefährdung des demokratischen Prozesses geht von einer längst eigendynamischen, zügellosen Demoskopie aus. Wie so oft (und auch im Falle der Medienöffentlichkeit), wird aus einem Instrument der Aufklärung eine Waffe der Manipulation. Und tatsächlich gehört das System der Spin-Doctors, nämlich als dem eigentlichen Resonanzraum der Demoskopie, als verlängerte Werkbank direkt zur demoskopischen Verklärung. 

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Ich habe eine Reihe von Elogen gelesen, in denen die Reportage von Markus Feldenkirchen für preiswürdig etc. bejubelt worden ist. Dem kann ich nicht folgen. Sie ist handwerklich weder besonders brilliant noch zu beanstanden: solide. Mehr nicht. Nicht Feldenkirchen, sondern Martin Schulz ist dafür zu preisen, dass sie zustande kam; was Eindruck macht ist der Gegenstand, nicht die Umsetzung.

Ich habe eine andere Reihe von Kommentaren gelesen, die Martin Schulz nunmehr auf den Richtklotz legen wollen. Wie unnötig! Wie unvermeidlich. Mit der Personalposse Andrea Nahles ist doch bereits alles getan. Martin Schulz hat ein Mandat (NRW-Listenplatz 1) aber bekommt er „unter Nahles“ auch Redezeit?