Wer sind das Volk?

Soziale oder

asoziale Medien

20-01-2021
 

„Unser Land hat genug. Wir werden das nicht mehr ertragen, und darum geht es hier. … Wir werden den Diebstahl stoppen. …
Nebenbei: Glaubt irgendjemand, dass Joe [Biden] 80 Millionen Stimmen hatte? Glaubt das jemand? Er hatte 80 Millionen Computer-Stimmen. Es ist eine Schande. So etwas hat es noch nie gegeben. …

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… Es ist eine Schande. Man könnte Dritte-Welt-Länder nehmen. Schaut es euch einfach an, seht euch Dritte-Welt-Länder an. Deren Wahlen sind ehrlicher als das, was wir erlebt haben. Es ist eine Schande. Es ist eine Schande. … Wir werden nicht zulassen, dass sie Eure Stimmen zum Schweigen bringen. Wir werden es nicht zulassen. Ich werde es nicht zulassen. … Also wir werden […] die Pennsylvania Avenue hinuntergehen – ich liebe die Pennsylvania Avenue – und wir werden zum Kapitol gehen und wir werden […] versuchen, unseren Republikanern – den schwachen, die starken brauchen keinerlei Hilfe von uns – wir werden versuchen, ihnen den Stolz und die Stärke zu geben, die sie brauchen, um unser Land zurückzuerobern.“

 

Burning Down the House

Kanzlerinnen, Premiers und Präsidenten, die Mächtiginnen machen Geschichte. Das ist ihr Job, ihr Mandat: sie sollen Geschichte machen! Hhm.
Das – im Ergebnis – birgt gewisse Risiken.

Nun will ich mich nicht damit aufhalten, die historischen Ereignisse rund um den Sturm auf das Capitol zu diskutieren. Einerseits sind sie – eben – Geschichte, und eben vorbei; vorbei sind sie auch deswegen, andererseits, weil sie in jeder denkbaren Facette analysiert und kommentiert worden sind. Unter der Prämisse, dass es bei der Inauguration heute keine Aufstände gibt, wüsste ich auch nicht, was meine einsame Einsicht noch an Erkenntnissen oder Bewertungen würde hinzufügen können. 

Mich interessiert – zum Einstieg – ein anderer Aspekt: was, wenn Trump Recht hätte? Nee, ich glaub’ das nicht …gar nicht, überhaupt nicht, umGottesWillen–not at all! Doch bereits das offenbart das Problem! Wie war das gleich nochmal?

Die USA,

so sahen es die Demokraten, befanden sich in einer aussichtslosen, ja, in einer verzweifelten Lage: Nicht, weil die Umfragen auf eine zweite Amtszeit Trumps zuliefen, im Gegenteil. Aus seiner Sicht lief es schlecht. Doch a) so hatte es in 2016 auch ausgesehen; „Umfragen! willst Du drauf bauen?“ Und b) mussten die Demokraten auch befürchten, dass der Biden-Effekt sich letztlich als ein katastrophaler Schulz-Effekt weisen könnte – etwa, wenn ein zugelassener Impfstoff noch vor der Wahl das Ruder herumreissen würde können. Und eben dafür standen die Chancen gut, unsicher, aber nicht schlecht. Die Demokraten, so musste man es sehen, quälten nicht die Aussichten, sondern die Möglichkeiten.

Das Election Team

der Demokraten um Nancy Pelosi, in einem joint approach mit Bidens persönlichem Wahlkampfteam, hatten das ganze Jahr hindurch die Entwicklung beobachtet. „Was droht“, frage der Schachspieler – und „Strategen“, so beschied Nancy Pelosi die beiden Teams in der konstituierenden Sitzung, „schauen nicht auf Umfragen, sondern auf Möglichkeiten.“ Im Land selbst war die Stimmung gespalten; alles wäre möglich.

Der entscheidende Impuls jedoch kam aus den Gesprächen mit Freunden und Partnern auf der ganzen Welt. Die Beziehungen zu China, zu Europa, zu Russland, selbst die, waren von Trump beherzt in den Dutt geritten worden; China ging zunehmend auf Konfrontation, in Europa waren Absetzbewegungen unübersehbar, die Nato, „hirntod“, stand in Frage, jetzt auch aus den Reihen der Verbündeten. Die Demokraten mussten befürchten, dass den USA in einer zweiten Periode Trump eine dramatische, nahezu globale Isolation drohte; die wirtschaftlichen Folgen: unabsehbar!

Im Jahresverlauf 2020 hatte sich Nancy Pelosi zunehmend radikalisiert; dauerhaft bleibt uns die Erinnerung, wie sie Trumps Rede hinter ihm stehend zerriss. „Mein Lebenswerk“, vor allem aber ihr Land, so hatte sie Biden zugeraunt, würde sie sich „von diesem Trottel nicht kaputt machen lassen“. Mehr und mehr ähnelte sie dem Kampfstern Galaktika: alt und von Einschlägen gezeichnet, aber stahlhart entschieden und rücksichtlos bereit. „Wir werden ihm dieses Land nicht zum Frass überlassen.“ Biden war da zurückhaltender, im Ton, im MindSet; doch in der Tendenz, im Zielbild war er mit ihr einig. „Und wir werden es auch nicht irgendwelchen zufälligen Funktionsfehlern dieser zweifelhaften Wahlmaschinen überlassen.“ 

Es hatten sich Gouverneure und sogar Senatoren gefunden, die es genauso sahen. Auch Republikaner. Als parlamentarisches Urgestein wusste Pelosi, mit wem sie worüber reden konnte; und, btw,  Trump machte es ja keinen Deut anders. Nur schlechter, undiplomatischer. Er wusste nicht, wie man Interessen managed; kannte nur eine Partei: sich selbst. 

Kurzum, die Demokraten hatten die Wahlen gewonnen, mit genügendem Vorsprung, aber auch nur grad so, dass es noch zu den Umfragen passte. Gar nicht so einfach. Dass er sich wehren würde, damit hatten sie gerechnet, dass er sich so dumm und so energisch dumm wehren würde, das jedoch hatten sie sich nicht vorstellen können.

Der Glaube

Neeeiin, jetzt mal ohne Scheiss, wir trauen das den Demokraten nicht zu. Sowas machen die nicht. Die Frage ist aber doch, wievielen Tätern überhaupt wir ihre Taten zugetraut hätten? Und, bitte sehr, wir reden von den Vereinigten Staaten! Das ist das Land, das in aller Welt Militärputsche anzettelt, Menschen ohne Verfahren in Guantanamo … ja, was?, man will sich bei den möglichen Verben gar nicht genauer umschauen; das Geschäftsleute mit Sanktionen überzieht, Freunde und Verbündete abhört –, und was nicht alles, das im Dunkeln bleibt.

Guckst Du Netflix, oder Prime, weisst Du Bescheid!

Doch halt, bevor das jetzt aus dem Ruder läuft und in irgendwelchen Verschwörungen endet: Nicht, ob oder was wir Nancy Pelosi und den Demokraten zutrauen –, die eigentliche Frage ist, was wir wissen können. „Der Eine sagt dies, die Andere sagt das.“ Wir haben unsere Vorstellungen, einen gewissen Glauben, wir spekulieren über Wahrscheinlichkeiten. Wissen, belegen, historienfest nachweisen können wir nix! Ob Trump lügt? Ob Pelosi zu einem so infamen Betrugsmanöver fähig wäre? Right or wrong, wir stehen auf Seiten der Demokraten, aber right? oder wrong?
Keine Ahnung. 

„When left is right and right is wrong, you better deside, which side you‘re on.“ So sang es einst Tom Robinson. Mehr ist nicht geblieben: Wir treffen uninformierte Entscheidungen. Und das, leider, ist noch nicht das Ende der Diagnose. Wahr oder falsch ist ja keine Sachfrage mehr, die nach Lage der Fakten zu entscheiden wäre. „What we’re facing now … is the fact that we’re facing a crisis of the truth in this country“, sagt Joe Klein (Autor von „Primary Colors“ und „Running Mate“) im Literatur-Podcast der NYTimes. Wahr oder falsch ist das Ergebnis einer Meinungsbildung, und die wird hergestellt!, faktisch, mehrheitlich; gelegentlich reicht es sogar, wenn die Meinung minderheitlich daherkommt. Das ist Trumps Erbe – nicht allein für die USA: es schwappt durch die Sozialen Medien in aller Welt. Sag, was Du willst, und dann wiederhole es. 
Wiederhole es. 
Wiederhole es. 
Wiederhole es. 
Wiederhole es.
Irgendwas bleibt hängen.

Über Enten

Wikipedia gibt darüber Auskunft, dass der Begriff Zeitungsente auf eine lange Tradition zurückblickt und vielleicht gar bis in 17. Jahrhundert zurückreicht; tatsächlich ist die Existenz von Zeitungen Bedingung der Möglichkeit, dass eine Ente darin vorkommt. Die Falschmeldungen dagegen fangen schon mit dem Urknall an. Und ob wir sie nun Ente oder Fake News oder alternativ nennen, es ist keine Erfindung von oder für Donald Trump, sondern ein offenbar nachhaltiges Problem. Auch ideologisch war die Lüge stets ungebunden: ob Bismarck mit der Emser Depesche die Franzosen zum Krieg provoziert oder Hindenburg mit der Dolchstosslegende den inneren Feind, Sozialisten und Kommunisten, zum Verräter an der deutschen Wehrmacht stilisiert, die Fake News kommen stets aus den besten Familien. Die Hohenzollern erschleichen sich Macht und Einfluss mit dem gefaketen „Privilegium Maius“; abgeschaut haben sie den Trick jedoch bei der Kirche, deren Päpste sich mit der  „Konstantinischen Schenkung„ die Weltherrschaft in die Schatulle schoben. Für die, offenbar ein begehrtes Gut, sollen bekanntlich auch die Weisen von Zion sich interessiert gezeigt haben. Während sich George W. Bush mit der Behauptung begnügte, im Schlafzimmer, bei Saddam Husseins daheim, Massenvernichtungswaffen gefunden zu haben.
Man könnte es so zusammenfassen: eine tapfer in die Welt posaunte Story hat der Weltgeschichte schon oft auf die Sprünge geholfen. ABER. 

Fake News

Zwischen einer lancierten Fälschung und den Fake News unserer Tage gibt es ein paar bedenkenswerte Unterschiede. „The medium is the message.“ so diagnostizierte Marshall McLuhan den Geist seiner Zeit. Der Gedanke, nicht mehr ganz frisch, vielleicht weist er aber doch in die richtige Richtung. Zunächst geht es darum, dass eine Nachricht, über verschiedene Medien vermittelt, sehr unterschiedliche Bedeutungen und also Wirkungen haben kann. Teils liegt das an den Adressaten (na klar: ihren Charakteren, Dispositionen …), andernteils an der Halbwertzeit („Das versendet sich“, sagt man im Radio – „Das Internet vergisst nicht“  ist da schon eine andere Nummer), und schliesslich liegt es auch an der Suggestivität und damit auch am Wirkungsgrad. Beleuchten wir das in einem Beispiel: Angenommen, Donald Trump würde behaupten, dass es Wahlfälschungen gegeben habe, durch die ihm der Sieg gestohlen worden sei, so würde ein so erschütternde Nachricht vermutlich von den Medienvertretern seines Landes aufgenommen und verbreitet. 
Vor allem aber würde sie kommentiert.

  • Würden alle Zeitungen des Landes darüber berichten, könnten das 55-60 Mio Leserinnen erfahren. Oder, der Präsident entscheidet sich anders:
  • Die gleiche Nachricht vom ihm über Twitter an seine 80 Mio Follower verbreitet, hätte nicht nur eine signifikant höhere Reichweite, vor allem erfolgte sie direkt, un-ver-mitte-lt. Oder es ginge ihm um den impact overall
  • Über die Mikrofone einer Life-Veranstaltung in Washington erreichte seine Nachricht zwar ungleich weniger Publikum, allerdings mit einem ungleich gewaltigeren und sogar historischen Ergebnis.  

Erwartungen

Das Beispiel ist um eine Spur komplexer, als es auf den ersten Blick scheint: Denn würde der Präsident seine Nachricht auf irgendeiner Life-Veranstaltung verbreiten (sagen wir: auf einem Marktplatz oder in einer U-Bahn-Station), ohne dass im Vorfeld der Veranstaltung eine Erwartung im Publikum bestanden hätte oder erzeugt wäre, sozusagen aus heiterem Himmel, wäre nichts weiter passiert. Nicht nur „vermutlich“, es wäre sogar „sicher“ nichts weiter passiert. Entscheidend dafür ist, dass auf irgendeiner Veranstaltung irgendein Publikum zusammenkommt, in dem sich ein zufälliger gesellschaftlicher Querschnitt gespiegelt hätte – mit diffusen, wenn überhaupt irgendwelchen Erwartungen; quasi ein Null-Summen-Spiel: denn in Summe hätte das Publikum, bildhaft, die Schultern gezuckt, mehr nicht.

Anders verhält es sich, wenn ein spezifisches Publikum zu einer spezifischen Veranstaltung zusammenkommt; dann sind konkrete Erwartungen im Spiel. Selbst die können noch diametral verschieden sein: hätten etwa (nur!) alle Zeitungen im Vorfeld des Event die Unhaltbarkeit der präsidialen Behauptungen kommentiert (wie es nach den ~60 gescheiterten Gerichtsverfahren, die der Präsident angestrengt hatte, kaum anders zu erwarten gewesen wäre), so wäre ein vermutlich signifikanter Anteil des Publikum mit dem kühlen Vorsatz erschienen, den präsidialen Nonsense zu kommentieren: zum Beispiel den Präsidenten auszubuhen, mit Tomaten, Farbbeuteln oder faulen Eiern zu bewerfen, oder was einer empörten Menge sonst noch einfallen könnte. 

Dass schliesslich ein Publikum, das als Twitter-Gemeinde ihrem Präsidenten an den Lippen hängt und von ihm zu der Veranstaltung quasi einbestellt wurde, mit einer wieder ganz anderen Haltung zu eben dieser Veranstaltung kommt, liegt auf der Hand. 

Was mich zu den Sozialen Medien bringt, der Gauss’schen Normalverteilung und, leider, auch zu einer Übung in Kritik und Selbstkritik. Während mir die Kritik relativ leicht von den Lippen geht, fällt es mir mit der Selbstkritik umso schwerer; denn dabei geht es um die Grundlagen meines Selbst- und meines Weltverständnis. 

Asoziale Medien

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, …“ Nun, Hermann  Hesse war ein Romantiker. Die Realität ist bisweilen eine andere. Es war doch so: Peer2Peer war eine grandiose Wortschöpfung für weltweiten Diebstahl. Hot or Not war eine WebSite für organisierten Sexismus. The facebook.com hebelte mit seinem Sozialdarwinismus die Hochnäsigkeit der Ivy-League Studenten. „For all of his geekiness he [Zuck] had a far better understanding of the social dynamics of college and elsewhere than most people.“ [Quelle: BBC] Sexismus, Kleptizismus, Elitismus, Narzissmus, Exibitionismus, und nicht zuletzt die Banalität von und in 160 Zeichen –, die Zauberkräfte der Sozialen Medien entstammten der untersten Schublade. Andererseits haben wir jetzt 20 Jahre später – und die Dinge haben sich entwickelt. Mit Milliarden von Nutzern spiegeln die Sozialen Medien heute die Gauss’sche Normalverteilung: ungezählte Gesellschaften finden sich „repräsentativ“ in ihnen abgebildet. 

In dieser Deregulierung, Privatisierung und Ökonomisierung des Nationalen an sich liegt schon ein gewaltiges Problem. Die Plattform wird zum Staat im Staate, einer Art Paralleluniversum, aus der heraus – unreguliert und mit beispiellosen Skaleneffekten – Ansprüche oder Forderungen an- oder Kampagnen gegen die jeweilige nationale Administration vorgetragen werden. Getragen wird die Entwicklung von radikalen Veränderungen der Öffentlichkeit, deren „Raisonnement“ zu einem Alptraum geworden ist. Die „OneTermEra“ Trump hat gezeigt, wie schwer sich die Sozialen Medien tun, als verantwortliche Instanz oder gar als Gatekeeper auch nur ansatzweise so etwas ähnliches wie eine kulturelle, soziale, politische oder auch nur ökonomische Hygiene sicherzustellen. Dass am Ende seiner Amtszeit Trump selbst in seiner sozialen Reichweite eingeschränkt wurde, ändert ja nichts daran, dass weite Teile seiner Anhängerschaft (wie auch diverse andere „Anhängerschaften“) weiterhin ihre „Theorien“ verbreiten können. Wie auch anders, wenn die halbe Nation in ihnen aktiv ist! 

Ich neige inzwischen zu der Ansicht, dass mit den Sozialen Medien – übrigens analog und vergleichbar dem Thema KI – die Büchse der Pandora geöffnet wurde.

Aus dieser Büchse, nachdem sie einmal ihre Klappe geöffnet hatte, stürmte und drängte die innigste Freundschaft:

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.

„Seid umschlungen, Millionen! 
Diesen Kuss der ganzen Welt!

Und so kam es: egal wer, egal wo, egal wieviele – sie wurden alle, alle meine Freunde. Ich schwamm, badete, ersoff in Freundschaft. Freundschaft! Das war einmal ein seltenes, teures Gut. Sie musste verdient sein, gepflegt, unter Beweis gestellt werden. Vorher war ich einsam und ähllein, jetzt war ich der Mittelpunkt. Der Fortschritt hat meine Trübsal hinweggefegt: bla-bla-bla, an meine Brust, Freund. 

Micro-Messiah

Der soziale Raum war nur die eine Seite der Medaille. Wir, und hier setzt die Selbstkritik ein, ich selbst hielt es anfangs für eine Befreiung, für eine Demokratisierung des Denkens. Die Möglichkeit, ohne Zensor, GateKeeper oder hochnäsige Lektorate meine Meinung, Kenntnisse, Prosa, Parolen verbreiten zu können, die Aussicht, ja, sogar das Versprechen, ungezählte, namenlose „Freunde“ als „Follower“ zu binden und mit meinen – wichtig-wichtig – Einsichten bekannt zu machen – welch ein Glück! Meine Botschaft – „viral“. Und wie, bitte, hätte ich erkennen können, dass sie, meine klugen, warnenden, unterhaltsamen, belanglosen, bedeutungsvollen Botschaften, vielleicht jene eine Krankheit sind, die die Welt vergiftet? Dass unterwegs etwas schief hätte gehen können, wer hätte das ahnen wollen?

Nunja, man hätte es sogar wissen können. 

Immerhin hatte einmal die sogenannte „Öffnung der Hochschulen“ – „Nieder mit dem Herrschaftswissen!“, das war in den 1970er Jahren – dazu geführt, dass eine Welle mässig qualifizierter Professoren („Ups - früher gab es mal die Hessen-Profs: Erst Professor-werden, dann promovieren.“) einen Tsunami an mittel-ausgebildetem Mittelmass in den Arbeitsmarkt entliessen. Der Rückschwung des Pendels führte mit der Bologna-Reform – back2school – in eine mindestens gleichwertige Katastrophe. Das klingt jetzt vielleicht etwas verkürzt: Und so waren es diese 50 Jahre, in denen das Silicon Valley die Weltherrschaft übernahm; es waren diese 50 Jahre, in denen sich China aus der kommunistischen Asche erhob. Plus die Tiger-Staaten, und inzwischen oder wenigstens bald auch die emerging markets … Gelingt uns ein gewisser historischer Abstand, so müssen wir vermutlich doch erkennen, dass in diesen 50 Jahren Europa seine intellektuelle Vorherrschaft einbüsste. Anders gesagt: Die Liberalisierung des Universitätszugangs erodierte die intellektuelle Qualität der Ausbildung – und die Wettbewerbsfähigkeit in der Folge.

Mit den Sozialen Medien, auf sie zielt ja diese Analogie, verhält es sich ähnlich: der nunmehr ungeregelte Zugang zur Öffentlichkeit ermöglicht und verstärkt den Einfluss von Mittelmass und Dummheit (mit all den immer schon faschistoiden Nebenwirkungen) auf die gesellschaftliche Willensbildung und ermöglicht es darüber hinaus interessierten Kräften, in einer Art friendly take over, die strukturelle Leere dieser Einflüsse mit den eigenen Begriffen zu infiltrieren und für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Was als Befreiung der Meingsbildung anfing, endet in einer beispiellosen Polarisierung der Nation (besser: jeder „betroffenen“ Nation) entlang der Gauss’schen Verteilung des IQ und, als Folge, in der (mindestens drohenden) Zerstörung der Grundlagen der liberalen Gesellschaftsordnung. Ein gruselig-schönes Paradox: Liberalität zerstört Liberalität.

Kollateral Damages

Es sind nicht nur die Verwerfungen in Politik und Öffentlichkeit, die auf das Konto der Sozialen Medien gehen! Den Umgang mit den Nutzerdaten etwa, kann man nur als eine Mischung aus Piraterie und Wild Wild West bezeichnen. Solange „nur“ Konzerne mit Daten Werbung personalisieren, halten sich die „staatsbürgerlichen Schmerzen“ der Enteigneten in Grenzen – und so verlief der Coup reibungslos. 

Die tiefer liegenden Gefahren dieser organisierten Kriminalität zeigen sich erst mit der Nagelprobe – wie etwa, als in der Türkei nach dem sogenannten Gülen-Putsch in wenigen Wochen Hundertausende nach priorisierten Profilen verhaftet oder aus ihren Jobs entlassen wurden: ohne (soziale) Datenbanken wäre das schlicht ein Ding der Unmöglichkeit. Ob, im Falle der Türkei, Soziale Medien die Daten direkt oder durch (unwillentliche?) „back doors“ zugeliefert hatten, entzieht sich meiner Kenntnis; Aktenkundig (wie im Fall Apple) und durch Forderungen belegt jedoch ist, dass die NSA in den USA und der GCHQ in UK (und vermutlich der BND ebenso) im Bedarfsfall dazu in der Lage sind. 

Ich will nur vorsorglich ansprechen, dass ich in meiner Argumentation originär regionale Stichworte relativ bunt mische: mal verweise ich auf deutsche, mal auf US-amerkanische, britische oder, wie eben, auf türkische Beispiele. Das wirkt vielleicht zufällig, ist es aber nicht: Die meisten Entwicklungen der zurückliegenden Jahrzehnte sind global, getrieben von global agierenden Unternehmen, Diensten, internationalen Geld- und Handelsströmen, der Digitalisierung und auch des touristischen Kosmopolitismus. Gerade die „grossen gesellschaftlichen Problembestände“ haben keine nationalen, sondern „transnationale“ Treiber – und es erscheint mir müssig und formalistisch, einem deutschen oder amerikanischen … Stichwort/Sachverhalt, das/den ich belegen kann, in all seinen globalen Verästelungen/Erscheinungsformen nachzuspüren. 

Noch eins und nur der Vollständigkeit halber: die angesprochenen Verluste sind den Sozialen Medien natürlich nicht allein anzulasten. Eine Reihe von traditionellen Medienunternehmen – herausragend darunter, aber keineswegs alleinstehend, die News Corporation, der das in UK (ohne die Sun kein Brexit), den USA (ohne FoxNews kein Trump) und Australien (ohne den Daily Telegraph und die Herald Sun keine Klimaleugner) gelang –, haben breite Verwüstungen in der öffentlichen Meinung angerichtet … 

Der GG-Faktor

Was für eine schreckliche Zusammenfassung: Der liberale Westen hat dem Affen Zucker gegeben, zum Dank hat der ihm den Stöpsel gezogen. Diese Kritik sozusagen im Geiste des Feuilletons übersieht aber immer noch das Wesentliche. Dass Information vom Interesse kontaminiert ist, habe ich weiter oben diskutiert; dass die Diagnose für die Sozialen–, und ganz allgemein für die Medien, ebenso gilt, ist nur folgerichtig. Dieses „Interesse“ interessiert sich für die Gesellschaft und ihre Feuilletons eigentlich allenfalls am Rande – oder doch: immer dann, wenn Änderungsbestrebungen in der Gesellschaft die eigenen Interessen tangieren; im Zentrum ihres Interesses aber steht … die Gier. Es grüsst Gordon Gekko.

Edoardo Saverin investierte in facebook 19.000 Dollar, Peter Thiel folgte mit 500.000; und das war nur der Anfang. Den Aufbau des Unternehmens haben Investoren seit 2003 mit etwa 1,5 Mrd. Dollar finanziert. Das hat sich ausgezahlt. Seit seinem Bestehen hat das Unternehmen seinen Investoren und Eignern, darunter Sean Parker, Bono, Black Rock, Goldman Sachs, Microsoft und andere, rund 70 Mrd. Dollar eingebracht. Die Gewinne purzeln fast ausschliesslich aus den Einnahmen (2019 etwa ~70 Mrd $) aus dem globalen (digitalen) Werbemarkt, von dem facebook etwa 19% abdeckt, Google (mit Youtube) knapp ein Viertel. Unentschieden ist, ob solche Gewinne krank sind oder die Tatsache, dass wir uns an die Zahlen gewöhnt haben. 

Mit etwa 4 Mrd Dollar Umsatz spielt Twitter finanziell nicht in der gleichen Liga; auch die knapp 350 Mio Nutzer sind, verglichen mit facebook, überschaubar. Allerdings: „Der vielleicht größte Vorteil der Twitter-Nutzung ist die Tatsache, dass es sich um eine bevorzugte Plattform für führende Politiker der Welt handelt, von denen 83% offizielle Konten haben.“ [Quelle: Kinsta.com] Die Wirkungen dieses „Vorteils“ haben wir kennengelernt.

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Was tun?

Was denken? Was wollen? Zu den analytischen Schwächen meiner Argumentation gehört, dass ich selbst die Sozialen Medien nutze. Ich rede mich heraus: Mein Zugang ist überwiegend beobachtend, und es gab Zeiten, da fand ich in meiner bubble wertvolle Hinweise und Kommentare. Zugegeben: Gelegentlich versuche ich, durchaus halbherzig, hier meine eigene Reichweite zu erhöhen, mit übrigens mässigem Erfolg. Aber komm: Ich hielte es für übertrieben, mein Verhalten gleich unter Schuld oder Mitschuld zu buchen; die Frage aber, welche Schlussfolgerungen ich selbst aus meiner Analyse ziehe, muss ich mir gefallen lassen.
Die Antwort hat mich eine Weile beschäftigt; drei Tage um genau zu sein. 

Es gäbe ja Beispiele, man könnte sagen: Vorbilder. Menschen haben z.B. ihren Account gelöscht. In gewisser Weise ist das konsequent. Ich glaube zwar nicht, dass einsame und unorganisierte Entscheidungen am „Phänomen facebook“, allgemeiner: an den Wirkungsgesetzen der Sozialen Medien irgendetwas ändern. Jenseits gewisser „roter Linien“ (die zu definieren wären), halte ich aber persönliche Konsequenz tatsächlich für geboten. Diese roten Linien schein mir bei den Sozialen Medien (noch) nicht überschritten. Auch hätte so eine private Kündigung schlicht keinen Symbolcharakter. Anders bei Donald Trump: seinen Zugang zu sperren, hat eine über sich selbst hinausweisende Bedeutung; aber auch Trumps Verbannung hat nicht gereicht. 

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facebook – Die Welt fest im Griff
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Vielleicht, daran jedenfalls möchte ich glauben, solange ich die kritische rote Linie noch nicht erkenne, vielleicht leistet mein zersetzendes Denken einen Beitrag, eine Art Langzeitvergiftung, wie sie mit Arsen oder Blei einhergeht; vielleicht trägt es dazu bei, Gewohnheiten zu ändern: weil sich Einsicht mit Langeweile mischt. Ich glaube an die verheerende Kraft von Implosionen: sie sind, anders als Revolutionen, irgendwie nachhaltiger; weil sie nicht aus dem Zuwachs, sondern aus dem Energieverlust erwachsen, einem Rückgang des Willens, der Widerstandskräfte, der Faszination. 

Wie schwer es ist, verlorene Energien wiederzugewinnen, lehrt uns die Ausnahme, das come back; es gelingt kaum je. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik; da – liegt meine Hoffnung.