RDP schreibt „Jäger, Hirten, Kritiker … eine Utopie für die digitale Gesellschaft“

Einerseits. Andererseits.

12-05-2018
 

In seinem jüngsten Buch „Jäger, Hirten, Kritiker – eine Utopie für die digitale Gesellschaft“ entwickelt Richard David Precht (RDP) einen Strauss Leitgedanken für die Zukunft. Bei der Beurteilung dieser Vision, so lässt er uns wissen, mögen einige der Ansicht sein, dass er zu weit gehe, andere könnten meinen, er gehe nicht weit genug; das aber mögen seine Kritiker unter sich aus machen.

Nennen wir es einen Versuch.

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Kauf ich nicht, so geht’s schon mal los: in welcher „Mitte“ stünde wohl eine solche Utopie? Wäre Precht der Meinung, dass er in seinen Überlegungen „sehr“ weit ginge, für Einige zu weit, zu abgehoben, zu luftig, aha, das würde ich verstehen. Wie er aber gleichzeitig annehmen kann, dass er einigen Anderen zu erdverbunden sei, zu wenig visionär, etc., das verstünde ich dann nicht. Was für eine Vision wäre das, die man so oder so kritisieren kann? Ist es eine Frage der Tagesform, eine geschmäcklerische Beliebigkeit? Wenn also keine NOTwendigkeit, die sie legitimierte, in dieser Utopie sich materialisierte – dann erschiene sie mir als Leichtgewicht, als Fassade gar, die vielleicht ein mit sich beschäftigtes Publikum täuschen könnte, doch niemanden, der es ernst meint. Eine Utopie –, so die Prüflatte, an der ich das bemesse –, sollte ihre Wurzeln im Notwendigen eingraben und auch mit ihrem Geäst nicht allein in einem rosa Nebel staken; sie darf/soll/muss mehr imaginieren, als möglich erscheint, aber doch nicht bloss irgendwas.
Andererseits, vielleicht ist das nur so ein Satz, rasch hingeschrieben; vielleicht sollte man nicht zuviel drauf geben?

Und gleich im Anschluss, legt er sich fest: ihm sei es darum gegangen, den Weg in die Zukunft einmal „mit dem Traktor zu befahren, und nicht mit dem Luftschiff“.
Das soll uns wohl Bodenständigkeit verheissen, Nachprüfbarkeit, keine wolkigen Kuckucksheime; eher also doch geschrieben aus einer Position, die, in den Augen Einiger –, und zwar um der Messbarkeit, der Realisierbarkeit Willen –, nicht weit genug gegangen wäre? Nun gut, er sieht sich also mit „dem Traktor“ unterwegs, ok.
Wer zum Kegeln geht, der muss damit rechnen, dass die Pins gezählt werden.

Nur kein Neid.

Einleitend muss ich einräumen: die Gerechtigkeit hat es schwer. pRecht polarisiert sein Publikum, und das liegt nur minderheitlich an dem, was er sagt; es ist die Art, wie er es tut. Er ist intelligent und verfügt über eine beeindruckende Bildung, er sieht gut aus und ist ausserordentlich erfolgreich; a Master of the Universe. Er sagt selten etwas Falsches und pflegt eine linksliberale Äquidistanz zum politischen Apparat (… mit aller wünschenswerten Deutlichkeit geisselt er den rückwärtsgewandten Rechtspopulismus); er macht alles richtig.
Und er weiss das. 

Schlimmer geht nicht, oder?
Und wenn er sich dann mit kapriziöser Lässigkeit breitbeinig in einen TalkShow-Sessel flezt, also: er fordert den Widerspruch geradezu heraus, oder! Gern wollte man so einem, wenn man denn könnte, einmal am Zeug flicken …  Zu Precht hast Du … eine Haltung, bist „für“ oder „gegen ihn“; was umso erstaunlicher ist, als er ja bislang für kein Amt kandidiert. 

Marketingseitig hatte er das Feld umsichtig bestellt, sein Buch trifft auf eine sauber vorbereitete Erwartung, denn es schien klar, dass er seine seit Jahren „pro-digital-kritischen“ Talkshowreden irgendwann einmal würde unterfüttern müssen. Genug der Vorrede: das Buch ist scheisse.

Ungerecht!

Es ist gut. 
Es ist kompletter Murks. 
Es kommt zur rechten Zeit. 
Es ist ein verdammter Bastard. 
Es ist enttäuschend. 

Es ist, und man kann das nur zutiefst bedauern, es ist ein hinterhältiger Fall von „Einerseits, … Andererseits“

Samma gerecht.
Was es Gutes zu sagen gibt, ist immerhin genug, dass Dich erst spät das Gefühl beschleicht, dass Du hier Deine Zeit vertust. Und das liegt nun daran, dass Precht beinahe alles sagt: Digitalisierung, Erwerbsarbeit, Datenhoheit, usw. (wer von uns hätte nicht schon eine Weile den Verdacht, dass all die Reden von der digitalen Zukunft von PR-Interessen vergiftet sind?). Er sagt auch Klima, Ressourcen, Migration und Finanzen, er sagt alles, was ich auch sage, was gesagt werden muss, und was, leider, alles auch stimmt. 

Im Zentrum seiner Argumentation erfahren wir, dass die Erwerbsarbeit unter dem Ansturm der Digitalisierung in eine schwere Krise gerät; was automatisierbar ist, wird automatisiert, und da bleibt dann am Ende nur noch wenig zu tun. Auf einschlägigen Business-Konferenzen hört man das allenfalls im Pausengespräch; gemurmelt, denn diese Risiken und Nebenwirkungen, sie passen einfach nicht zum digitalen Staatsoptimismus. Aber auch die aufgeklärteren Denker tun sich schwer mit einer eindeutigen Diagnose. Sie atmen ein, um dann den Untergang der Arbeitsgesellschaft zu beraunen, doch schon beim Ausatmen müssen sie beklagen, dass Deutschland in allen Fragen der Infrastruktur und im digitalen Wettbewerb einen bald schon unaufholbaren Nachsprung wird ausweisen müssen.

Es ist gut, richtig und notwendig, dass der drohende Verlust zumindest großer Teile der Erwerbsarbeit inzwischen mehr Aufmerksamkeit erfährt, denn, wie bei den meisten technologisch induzierten Prozessen, hat das gewaltige, mitunter unvorstellbare Wirkungen (Neuland) – ohne auch nur im Ansatz über ein gesellschaftliches Mandat legitimiert zu sein. Technik und Wandel und Verwerfungen kommen über uns, keiner hat sie bestellt; im Quartalstempo, Pausen sind nicht vorgesehen; allgegenwärtig, es gibt keine Rückzugsräume. 
Erwerbsarbeit sei aber nicht das einzige Problem: der digitale Datenklau, die US-amerikanischen Raubritter, die unsere Datennuggets gegen Glasperlen tauschen, das ganze Thema Datensouveränität, auch das eine Baustelle, gegen die sich der BER als überschaubar ausnimmt. Und Precht weist auch darauf hin, dass gerade jene (begrüßenswerten) StartUps, die, ausnahmsweise, einmal eine (zumindest in geschäftlicher Perspektive) gute Idee in die Welt gebracht hätten, sich in Nullkommanix von den Gafas dieser Welt aufkaufen lassen und .. so .. der erhoffte Nutzen für die deutsche oder europäische Ökonomie – kaum dass er wahrgenommen – bereits globalisiert ist.

Precht ist mit seiner Anamnese auf der Höhe des Heute, wenn er mit, sagen wir, knapp akzeptablem Sachverstand über die Phänomene der Digitalisierung spricht und deren Risiken in einer Dystopie ausleuchtet. Anders als manche US-Senatoren weiß er, womit Marc Zuckerburg sein Geld verdient, was eine Plattform ist – und kennt auch ein paar mehr Player und Positionen, als man von einem 54-jährigen Philosophen billigerweise erwarten darf. Er sieht die Entwicklungen und benennt und kritisiert sie mit Recht. Ein gutes Buch, in dem die Mehrheit der derzeit herumvagabundierenden Ängste und Befürchtungen beleuchtet und begründet werden.

Projektionen

Kommen wir zu den Schwächen.
Eine davon, ein Phänomen der Ungleichzeitigkeit, muss ich mir gelegentlich durchaus selbst anlasten. Eine Miniatur soll das illustrieren:

Eine Jahresendfeierlichkeit, mehrere Familien, ein weitläufiger Freundeskreis, viel Youngster darunter. An einem Morgen nach dem Frühstück sitzen rund acht oder 10 dieser Millenials rund um den Küchentisch und daddeln ALLE in ihre Smartphones. In grossen Abständen schiesst einmal das eine oder andere Wort in die Runde, vielleicht sogar einmal ein halber Satz, „Krass, der Philipp.“ oder „Nee ne, wie cool is das denn!“ ansonsten: nur flinke Daumen. Ich stehe mit dem Freund an der Seite und gebe den Kulturkritiker: die hätten alle verlernt, miteinander zu reden, was ein ärmlicher Anblick das sei, … diese Richtung. 

Der Freund sagt trocken: „Get used to it. Das ist die Generation, die die Zukunft gestaltet.“

Tja. Welche Kriterien? Woran bemessen und bewerten wir, was geschieht? Bei Precht regieren seine Kriterien, sein Verständnis von Humanismus, von Aufklärung. Darin ist er unnachgiebig, seine anthropozentrische Position hat insofern etwas ältlich penetrantes, die das Neue, die Zukunft, aus der Perspektive eines klassischen, bildungsbürgerlichen Menschenbildes anschaut; die sich so etwas altmodisches wie „Glück“ erhofft, Naturerlebnisse, Warmherzigkeit, Gastfreundschaft etc., alles, was die bürgerliche Mitte mit sentimentaler Träne im Auge bejaht und herbeiwünscht. Gutmenschlichkeit inklusive, versteht sich. Welcher vernünftige Mensch könne sich wünschen, mit einer Maschine zu verschmelzen? Mit Häme und Abfälligkeit spricht Precht über eine kalifornische Priesterkaste, die Technologie zur Religion erklärt habe, den Übermenschen propagiere und sich auch sonst von jedem Menschenmaß getrennt habe.

Kein Missverständnis: ich bin Zielgruppe dieser Haltung.
Allerdings glaube ich (inzwischen), dass auch die „guten“ Kriterien der Vergangenheit an den Parametern der Zukunft zu überprüfen sind. Ich sehe in seiner Position einen Abwehrreflex des Alterns, dessen ganze Fragwürdigkeit aber bereits am Hörgerät, am Herzschrittmacher, am Cochlea-Implantat, am Retina-Display oder am künstlichen Kniegelenk kristalliert. Wer bewertet die anthropologischen Grenzen, wer setzt die gerade noch als human geltenden Ziele und Zwecke? Precht weist darauf hin, dass viele Entwicklungen, die –, wenn man sie uns vorgeschlagen hätte –, „wir“ mit Lärm und Verve abgelehnt hätten, heute in tausenden von kleinen Schritten Realität geworden sind, ohne dass sich namhafte Proteste damit beschäftigt hätten. Das ist nicht ganz falsch, denn so ist es ja immer: (Nur) Wer fragt, kriegt Antworten. Andererseits verbucht Precht alles, was als Nutzen oder „Lust“ dazu beigetragen hat, diese schleichend-virale Entwicklung zu ermöglichen, als blosses Gimmick. 

„Ich bin“, sagt Danny Hillis, ehemals R&D-President bei Walt Disney, „Ich bin mit meinem Körper ebenso zufrieden, wie alle andere, aber wenn ich mit einem Körper aus Silikon 200 Jahre alt werden kann, dann nehme ich ihn.“ Was immer an Cyborg-Technologien entsteht, entstehen wird: wie bei aller Technik wird es einen trade off geben zwischen der UpSide, die sich (nicht nur) die Millenials wünschen und die sich epidemisch verbreiten wird, und der DownSide, die Missbrauch und Fehlentwicklungen, und seien es „nur“ technische Bugs oder Grosskatastrophen, ganz gewiss auch hervorbringen wird.

Es ist also gut, dass Precht warnt und erläutert; grosse Teile seiner kritischen Befassung sind berechtigt; ich selbst habe ausgiebig Ähnliches geschrieben. Andererseits bin ich aber doch sicher, dass mit trotzig humanistischem „mit dem Fuß aufstampfen“ diese Entwicklungen nicht einzugrenzen sind; schon gar nicht mit irgendeinem Rekurs auf „eine demokratische Willensbildung“, und am allerwenigsten mit dem gegebenen politischen Personal. Immer wieder betont Precht, dass es letztlich die humanen Zielsetzungen sein sollten, die im Vordergrund stehen. Dass es aber eben diese „Humanität“ ist (in all ihren bunten und vierschrötigen Erscheinungsformen), die uns, neben den hübschen Versprechungen, auch und vor allem die Nöte und Probleme produziert, in die wir uns gestellt finden, diesen Sachverhalt verteilt er auf verschiedenes Wünschen und Hoffen. Wir müssen, wir sollten, man könnte; für einen Denker von seinem Format ist diese Wunschzettel-Philosophie am Ende enttäuschend. 

Was denn eigentlich?

Das Einerseits/Andererseits bis hierher dient der Gerechtigkeit und auch der Anerkennung, die der Autor verdient hat.
Allerdings hat sich Precht als Traktorfahrer eingeführt, bodenständig, realitätsverbunden; das macht es nötig, auf einige der von ihm skizzierten Lösungsvorschläge genauer einzugehen – falls sich jemand danach richten wollte. 

Was Precht als Utopie darlegt und – am Ende – „zusammenfasst“, hat folgende Punkte: 

  • die Einführung des BGE und den Umbau des Sozialsystems;
  • die Sicherung der Privatsphäre und der informationellen Selbstbestimmung; 
  • eine digitale, staatliche Grundversorgung (Search, E-Mail, Assistents und social networks); 
  • eine strikte Kontrolle künstlicher Intelligenz, vor allem dort, wo Gesellschaftsbereiche durch Programmcodes ersetzt werden sollen;
  • die Förderung von Ideen zur gesellschaftlichen Zukunftsgestaltung;
  • eine Verpflichtung zur Nachhaltigkeit und zur Schonung natürlicher Ressourcen.

Dafür sieht er einen notwendigen „Realisierungshorizont“ von ungefähr 10 Jahren. 

Wer wollte widersprechen?

Natürlich sind diese zusammengefassten Forderungen hier auf das Gröbste verkürzt; immerhin benötigt er zuvor ein halbes Buch, um sie im Einzelnen zu diskutieren. Das Meiste, das er dabei ausführt, ist nachvollziehbar und lebensklug; besonders angenehm an seinem Vortrag ist, dass er um Ambivalenz und Dialektik weiß und sich nicht in Bereiche begibt, in denen ideologische Engführung seine Argumentation konterkarierte. Precht weiß, dass das, was er fordert, auch gelebt sein muss, um zu funktionieren, und insofern reguliert und puffert er seine Forderungen, wo sie auf menschliche Schwächen treffen. Also: alles gut?
Leider nein.

Precht ist Demokrat und fordert nicht nur Kontrolle und Regulierung, sondern auch eine demokratische Zielfindung. Schon hier muss man ihm eine lautere Naivität vorhalten, denn der demokratische Raum, in dem diese Zielfindung stattfinden müsste, wurde vor Jahrzehnten einer medialen ... Administration unterstellt. Dort aber, wo sie (die „raisonnierende Öffentlichkeit“) tatsächlich noch stattfindet, entwickelt sich eben diese Zielfindung hin zu einem gefährlichen Rechtspopulismus. Sei’s drum: Precht hofft also auf eine bürgerliche Öffentlichkeit und spricht mit erhobenem Zeigefinger zur Politik; was er aber außen vor lässt, sind alle systemischen Kautelen. Da wäre in vorderster Reihe eine politische Landschaft, in der es für seine Forderungen keine, kaum eine und jedenfalls keine relevante Resonanz gibt. Im Gegenteil. Er selbst diagnostiziert eine Politikerkaste im Winterschlaf, die alle wirklichen gesellschaftlichen Probleme mit Placebos bedient. Und dass „über“ dem demokratischen und dem politischen Gesellschaftsraum eine am Gemeinwohl vollständig desinteressierte Ökonomie schaltet und obwaltet, die sich mit der Globalisierung nahezu aller, zumindest aller effektiven Kontrolle und Regulierung entzogen hat, auch dieser Sachverhalt taucht in den Precht’schen Überlegungen nicht auf. 

Die digitale Gesellschaft

Zwei seiner Kernthemen verdienen (stellvertretend) eine gesonderte Betrachtung, das BGE und die informationelle Selbstbestimmung, gerade, weil er sich darin konkret positioniert und überprüfbar macht.

BGE

Disclaimer: Meine eigene Position zum bedingungslosen Grundeinkommen ist ambivalent: Wer, wie ich auch, der These vom „weitgehenden“ Verlust der Erwerbsarbeit folgt, kommt unweigerlich an den Punkt, an dem die Fragen der Verteilung aufkommen, nicht allein unter Gerechtigkeitsaspekten (… wem sollten die Gewinne aus der Maschinenarbeit zufallen? …), sondern auch mit Blick auf den Systemerhalt. Denn von welchem Geld könnten die Produkte der Maschinenarbeit gekauft werden, wenn die Zielgruppen nicht mehr über die Löhne aus ihrer Erwerbsarbeit verfügen? Einen wichtigen Teil dieser Diskussion, nämlich die Frage nach den „neuen“ Arbeitsplätzen, habe ich für mich entschieden: Wer die Entwicklung der KI versteht, der mag vielleicht über Reifegrade „auf dem Zeitstrahl“ diskutieren (also wann ist mit welcher Mächtigkeit einer KI zu rechnen?), nicht aber über das eigentliche Telos: In zählbaren Jahren wird die KI jene 50% Maschinenarbeit ermöglichen, die bereits heute prognostiziert werden, am Ende aber bleiben kaum Menschenleistungen, die nicht substituiert werden können. Deswegen ist es nötig, heute darüber nachzudenken, wie unsere Gesellschaft umgebaut merden MUSS, damit diese absehbare Entwicklung nicht zu den zu befürchtenden sozialen Verwerfungen führt. Das BGE ist, Stand heute, die einzige brauchbare Lösung. Wenn man sich darüber prinzipiell verständigt haben wird, mag es zu Abwägungen über eine schrittweise oder unmittelbare Einführung kommen. Insofern zeigen meine Überlegungen mit den von Precht einen hohen Überdeckungsgrad. 

Meine Ambivalenz kommt aus einer anderen Richtung: Wer mit diesen Argumenten das BGE einführt (… nimm eine 4-köpfige Familie, unterstelle ein BGE von 1000/Person und erlaube, weil es eben bedingungslos ist, dass alle, wenn sie können, dazu verdienen), der wird das ökonomische System, wie es heute ist, einigermassen bruchlos fortführen: eine Konsumgesellschaft. Dieser Tatsache ist mit einem blossen Spiegelstrich „Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung“ nicht beizukommen! Das ist nicht das einzige Problem in der Precht’schen Argumentation.

Wie hoch soll es denn sein, das BGE? Darüber wird intensiv diskutiert: im Durchschnitt kommen die genannten 1.000 Euro auf den Tisch, die dann aber zugleich ALLE bestehenden Sozialleistungen abgelten.
Dass aber hätte u.a. folgende Wirkung: in einigen Regionen, etwa in München, sind die bestehenden Sozialleistungen, insbesondere durch das Wohngeld, höher! Besonders in den Metropolen würden also namhafte Gruppen bestehener Sozialleistungsempfänger (viel) schlechter gestellt. Deswegen erhöht Precht sein BGE einigermassen willkürlich auf 1.500 Euro; er lässt unberücksichtig, dass derzeitige Sozialleistungsempfänger in der Region damit als BGE-Empfänger erheblich besser gestellt würden.
Hinzu kommen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit: das BGE trifft alle, 82,8 Millionen, darunter knapp 900 Tausend Millionäre (in 2012, Statista). 

Bei den Fragen der ReFinanzierung kommt die Precht’sche Argumentation schliesslich vollends in Schräglage: nachdem er alle anderen Steuern als „zu leicht vermeidbarbar“ disqualifiziert hat, wählt er ausgerechtet die bei weitem beweglichste, agilste und kaum feststellbare: die Finanztransaktionssteuer; die überdies krasse Redundanzlasten mit sich bringt: Mein Geld kommt aufs Konto: Steuer; ich hebe es ab: Steuer; ich zahle damit: Steuer. Ich zahle mit der Karte: Steuer; die Karte wird abgerechnet: Steuer … Natürlich erscheint die FTSteuer deswegen so attraktiv, weil wir damit auch den ganzen Börsen- und Hochfrequenzhandel abkassieren, … ausgerechnet! Eine Steuer auf jene brandgefährlichen Finanzgeschäfte, die die westlichen Gesellschaften in 2008 knapp vor den Abgrund geführt haben und deren Risiken fortdauern und sich verstärken, sollen nun Grundlage für den wichtigsten gesellschaftlichen Umbau seit Erfindung des Geldes sein? Meine Meinung: diese Finanzgeschäfte gehören nicht besteuert, sondern abgeschafft.

Im Nebensatz will Precht die Details dann den Ökonomen überlassen. Kann man so machen. Vielleicht sollten aber auch im Grundsätzlichen diejenigen darüber diskutieren, die die Materie verstehen.

Digitale Grundversorgung

Ich bin hier weniger bissig; kann es mir aber nicht verkneifen, die eine oder andere Wade zumindest anzubellen. Auch bei der Sicherung der Privatsphäre und der informationellen Selbstbestimmung findet mich Precht zunächst an seiner Seite; ich habe das schon vor 20 Jahren geschrieben. Leider war mir auch damals nicht klar, wie man die Büchse der Pandora wieder zubekommt. Selbst wo ich selbst solche Forderungen stelle, fühle ich mich doch jedes Mal von der Realität in den … Boppes gezwickt. Mit Recht subsummiert Precht die Geheimdienste unter das Problem; zusammen mit den Raubrittern formen sie eine schier unbezwingbare Lobby gegen die Interessen der Einzelnen, und ich frage mich, in welcher schönen Welt, nach welcher freundlichen Revolution, durch welche kluge Technologie das einmal anders werden könnte.
Oder, wenn wir dem Precht’schen Vorschlag folgen: hätten wir nicht mit einer STAATlichen digitalen Grundversorgung nur den Bock zum Gärtner gemacht?  

Vielleicht ... ist das nur eine Frage der Ausgestaltung: eine Notenbank ist auch „irgendwie“ der Staat, und doch ist sie „irgendwie“ unabhängig; möglicherweise öffnet sich ein Lösungspfad, wenn man das „irgendwie“ ein wenig fester in den Griff nimmt. Wenn wir nicht in einer Datokratur leben wollen, scheint es jedenfalls unausweichlich, dass der Umgang mit den Daten reguliert und neutralisiert wird. In dieser Zielsetzung weisen Precht’s Forderungen in die richtige Richtung. Mich bedrückt nur, dass die Grenzlinie zwischen Utopie und Naivität verschwimmt: Welche politische Konstellation würde jemals die Freibeuter der Daten aus ihrem Paradies  vertreiben? Die Aussichten, im Umfeld der informationellen Sebstbestimmung national oder gar europäisch auf einen grünen Zweig zu kommen, sind also trübe: um wievieles unwahrscheinlicher ist das mit Blick auf die KI? Forschungen und Anwendungen werden international vorangetrieben. Auch eine wünschenswerte staatliche Regulierung wird, wie in der Genforschung evident, einen BrainDrain und Wettbewerbsnachteile evozieren; die Entwicklung verhindern kann sie nicht. Weil das so ist, erweisen sich Einschränkungen im Bereich R&D, die auch bereits als unzureichende Bereitstellung finanzieller Mittel auftreten, als Ursachen späterer Abhängigkeiten. 

Das System

Und schliesslich: die Zeit. Was Precht an Entwicklungen vorschlägt, so, wie er es vorschlägt, ist Arbeit für Generationen, eine reicht ja nicht mal. Nun könnte man sagen: deswegen nennt er es eine Utopie. Aber nein, alles, wovon er schreibt, sind ja NOTwendigkeiten, die, bei Strafe gesellschaftsgefährdender sozialer Verwerfungen, auf Umsetzung drängen. Prechts Vorschläge sind partikular, voluntaristisch, reformistisch am Ende: guter Wille wird vorausgesetzt. Und damit sind wir beim eigentlichen Problem. Was er in der Sache und im Einzelnen vorschlägt, ist nicht falsch, weil es nicht richtig ist, sondern, weil es „das System“ als den eigentlichen Problemcluster nicht adressiert. Er schreibt bestenfalls einen Teil 1; die eigentliche Utopie müsste jetzt, unmittelbar im Anschluss zu seiner Anamnese, sich mit den Bedingungen der Möglichkeit befassen! Welches (nationale?, europäische?, globale?) System würde denn die Umsetzung dieser Forderungen überhaupt ermöglichen? 

Und deswegen ist es auch so ärgerlich: Precht schreibt Bestseller, sein Buch wird viel Aufmerksamkeit binden. Die streckenweise halbgaren Positionen werden das dringliche Thema Gesellschaftsmodell auf … Jahre besetzen, ja, verbrauchen und wir werden eine gute Weile lang auch damit zu tun haben, das Richtige vom Unbrauchbaren zu trennen, das Falsche zu verwerfen etc..
Schade: nur Wenige wären wie er prädestiniert, tatsächlich eine Utopie zu formulieren. 

 

 

* Wesentliche Teile der hier vorgetragenen Kritik sind in Diskussion mit Dirk Specht entstanden.