Grundgesetz, Artikel 146

Von der Endlichkeit des Grundsätzlichen

Gedanken zur deutschen Verfassung

12-01-2019
 

Oliver Wurm und Andreas Volleritsch hatten eine grossartige Idee: Das Grundgesetz, als Magazin. Hatte ich überhaupt je über darüber nachgedacht? In der Schule vielleicht. Natürlich weiss man dies und das, aber spätestens nach den Grundrechten war mir das Meiste, wie sagt man, Neuland.

Eine grossartige Idee

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Die Lektüre, eine beinahe erste intensive Begegnung mit den Grundlagen unseres Staatswesens, hat bei mir eine Auseinandersetzung angestossen, in deren „Umfeld“ mir dann auch ein aktueller Aufsatz von Armin Nassehi untergekommen war. 

Wie es so is:

Nach einer ersten Begeisterung war ich mit dem Magazin formal unzufrieden, nach anfänglicher Zustimmung geriet ich mit dem Professor über Kreuz und dann, nachdem auch meine grund(ge)sätzliche verfassungspatriotische Euphorie verflogen war, erschien mir das Gesetz an allen Ecken und Enden unzureichend. Eigentlich sind das verschiedene Themen; ein und dasselbe Grundgesetz, aber doch weit auseinanderliegende Perspektiven. Schliesslich wurde mir klar, dass ich das trennen muss (Teil 1 steht hier). 

Vor allem jene Fragen, die sich an das Gesetz selbst richten, gehen über das Feuilleton hinaus. 

Aber mit dem Grundgesetz streiten? 

Wieder mal typisch; andere finden es grossartig. Aber bevor ich bei Dir neuerlich in dieser schon mehrfach umetikettierten Schublade verschwinde, werfen wir doch gemeinsam einmal einen Blick auf die Schlusspointe – denn der Artikel 146, der letzte, lautet:

„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Das Ding ist endlich! 

Deswegen! Wenn das kein Grund ist, es einmal genauer anzuschauen! Frage an Radio Eriwan: Stimmt es, dass das Grundgesetz zu den Guten gehört? Im Prinzip ja, schon. Ranga Yogeshwar hält es für einfach sensationell, und in Summe stimme ich ihm zu. Doch im Einzelnen bin ich eher kritisch mit dem, was da steht. In meinen bis 2019 gealterten Augen haben die Wörter mit den Jahren gleichsam einen staubigen Schatten bekommen, der glockenreine Klang und der Zauber das Anfangs erscheinen uns Heutigen, wenn wir ehrlich sind,  ein wenig eingedumpft und eine überraschende Menge von Aussagen würde heute so nicht mehr gemeint werden können.

Eine Verfassung   

Man muss die Sache ja von hinten aufrollen. Der Unterschied zwischen dem endlichen Grundgesetz und einer „ewigen“ Verfassung ist klipp und eindeutig: Eine Verfassung unterliegt einem Plebiszit. 

Als das Grundgesetz 1949 beschlossen wurde, haben die promiske Elternschaft (66 Väter und 4 Mütter) und ihre Auftraggeber, die westlichen Siegermächte, mit politischem Sachverstand und psychologischer Scharfsicht auf die Befragung des Volkes verzichtet: wer, bei dem Volk!, hätte für den Erfolg eines demokratischen Aktes garantieren wollen? Wie nun aber unsere Brüder und Schwestern aus der soffjetischn [qtip:(1)| für die Jüngeren: das zitiert Konrad Adenauers ausgeprägt rheinischen Akzent]  Besatzungszone sowieso nicht mitmachen durften, hatte das (damals noch) der Wiedervereinigung verpflichtete Trizonesien [qtip:(2)| nochmals der Blick zurück: so wurde der Westteil, die spätere Bundesrepublik, umgangssprachlich bezeichnet, weil die Franzosen, die Briten und die Amerikaner die politische Hoheit über je eine Zone übernommen hatten. Im Osten war der Russe, das war ja schon wieder kaltes Kriegsgebiet!] auch einen passablen Vorwand, eine solche Abstimmung zu ver…schieben. Und die Bayern, wen wundert’s, wollten auch nicht mitmachen! 

1989 hätte es locker schief gehen können. Wiedervereinigung! Wann hätte es einen besseren Zeitpunkt gegeben, die verschobene Zustimmung nunmehr einzuholen? Doch mit wiederum analytischer Umsicht und psychologischer Einfühlung haben die Vertreter des Volkes auch diese Gelegenheit historische sauber umschifft. Man einigte sich auf die, bei Lichte besehen, semantisch und auch sachlich abenteuerliche Konstruktion eines „Beitritts des Staatsgebiets der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" nach Art. 23 GG a.F.. Erstaunlich (aber dann auch wieder logisch), dass die deutsche Medienöffentlichkeit es geschehen liess: Dem deutschen Volk wollte man nicht trauen!

Wir wissen natürlich, warum der Souverän lieber nicht gefragt wird! Käme es nämlich zu einer solchen Abstimmung, sozusagen unter den kritischen Augen der Ewigkeit, so würden alle Kirchen, Lobbies, Verbände, Vereine und Parteien das bestehende Gesetzeswerk einmal gründlich befingern und feststellen, wie ich auch, dass es sooo, wie es da steht, denn doch nicht bleiben kann. 

Was den Westen betrifft, war alles wohlmeinende Misstrauen vermutlich ungerecht: die Volksabstimmung über die hessische Verfassung im Herbst 2018 hat gezeigt, dass a) das Volk dem Staat zur Seite springt, wenn es darauf ankommt: 80+Prozent haben 14 Änderungen zugestimmt. Dann aber hat die Abstimmung auch gezeigt, dass b) nur eine Minderheit dabei genauer hinschaut: nur 30% haben es abgelehnt, das Wählbarkeitsalter auf 18 herabzusetzen. Mit Bravour dagegen bestand das Volk sogar den demokratischen Lackmustest und hat die Todesstrafe abgeschafft, die aus undurchsichtigen Gründen noch immer im Hessischen herumgestanden hatte. 

Was wir vorfinden

Vorerst bleibt das Grundgesetz unser nationales Bollwerk gegen alles Üble: Es kann nur durch Gesetz geändert werden und das auch nur mit einer 2/3 Zustimmung im Bundestag und im Bundesrat. Das ist eine ganz passable Firewall und, wer unsere Parteien kennt, eine schier unüberwindliche Hürde. Denkt man so: 

Im Lauf von 70 Jahren geschah das Unmögliche 62 Mal; dabei kam es zu 110 Ändeurngen. Einige Artikel hatten über die Jahre ein ruhiges Leben, so die Paragraphen 4 bis 12, andere wurden alle alle Naslang geändert. Für die Ewigkeit jedenfalls ist es nicht gemacht, es ist vielmehr eine der eigenen Überwindung zustrebende Textsammlung. Bevor es zu diesem Äussersten käme, fehlt es an zweierlei: 

  1. an einer zustimmungsfähigen Verfassung und 
  2. an einer historischen Gelegenheit, sie zu beschliessen. 

Das ist schier unerreichbar wenig. 

Was die Gelegenheit betrifft, diese Frage ist leicht zu beantworten: Zero Chance! Denn was – von einer Revolution einmal abgesehen – könnte als eine solche herhalten? Und eine Revolution – in Deutschland?!! – am Horizont ist nicht einmal ein dunstiger Ansatz zu erkennen. Andererseits: das ist gut. Wir würden uns ja auch nicht einigen können. Denn eins ist klar: Wenn Du das Paket an einer Ecke aufschnürtest, gäbe es rasch kein Halten mehr! Wie beim Fussball hätten 80 Millionen Bundestrainer eine Meinung, von dem Medien-TohuWaBohu ganz zu schweigen, ein heilloses Chaos! Sehr die Frage, ob eine solche Verfassungs-Diskussion jemals ein Ende findet, solange am Ende der Debatte deren Einführung drohte. 

Das finge schon mit der Präambel an

„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Schon dieses syntaktisch-semantische Gelände hat Höhen und Tiefen und vor allem Tücken. Noch haben sich Deine Augen nicht an die Lumineszens des Textes gewöhnt, da steht da schon: „Gott“, das Wort Nummer sechs! Ach Herr. Je. Mit Mühe und Muslimen kommen wir auf 65% Kirchenmitglieder im Land. Also ginge schon mal der erste Fight um die Frage, ob „Gott“ in die Verfassung gehört und wenn ja, wieviele? Für meinen Teil, es soll ja die Gewalt vom Volke ausgehen, hat er da nix zu suchen!

Gleich danach sollen wir „beseelt“ sein. Was – genau – ist das, bitte? Hat das Verfassungsrang? Sollten wir mit dieser – vielleicht kleinlichen – Frage gerade noch so zurecht kommen, so sei es das Ziel dieser Beseelung, Europa zu vereinen (das ist Logik: denn nur so könnten wir ein …Glied davon werden)! Also: ich bin dabei, aber wer noch? Gerade in diesen Tagen müssen wir um die Antwort fürchten! Als nächstes sollen wir dem Frieden dienen; das geht schon OK, aber meine Wette: Mit Inbrunst werden die Grünen die Ökologie dem Frieden beigesellen wollen (wogegen ich auch nicht spreche; aber denk Dir mal den Lobbysturm, der daraufhin ausbricht). Nur gut, dass sich der letzte Klops der Präambel sozusagen von selbst erledigt: Kraft der verfassungsgebenden Gewalt hat sich das deutsche Volk ein Grundgesetz gegeben. Wie bitte? [qtip:(3)| Erstens: das deutsche Volk war nicht beteiligt! Tatsächlich handelte ein „parlamentarische Rat“, von den Landesparlamenten(!) gewählte 70 Mitglieder, 4 davon Frauen, 5 nicht stimmberechtigt (weil Berliner). Zweitens: Warum führt die „verfassungsgebende“ Gewalt nicht zu einer Verfassung, sondern „nur“ zu einem Grundgesetz?] Dass das niemander aufgefallen ist! Aber gut, in einer Verfassung hätte sich das erledigt.

Soviel Durcheinander und wir sind noch nicht mal bei Artikel1 angelangt. Dort aber lauert bereits die „Würde“ auf eine philosophische Bestimmung …, und wenn wir in diesem Geiste fortfahren, würde es bestimmt nix mit einer Verfassung. Bei 146 Artikeln würde uns auch ohne Wortklauberei alsbald die Puste ausgehen; also. Blicken wir für den Augenblick nur auf das Grundsätzliche, sagen wir: auf die Grundrechte, und gehen lieber so vor, dass wir nicht alles Fragwürdige in Frage stellen und nur diejenigen Punkte antippen, die einer Nachfrage, und tatsächlich einer Korrektur bedürfen.

Was wollen wir wollen?

Im Dreisprung nehmen wir also die Würde, Ehre, Persönlichkeit und was wir sonst noch an wolkigen Begriffen vorfinden, Gewissen, …; schwer zu sagen, was die bedeuten könnten, was sie begrenzt oder bis wohin ihre Gültigkeit reichen könnte. Um wievieles leichter dagegen wäre zu begründen, dass sie täglich mit Füssen getreten oder ignoriert werden. … Schön, dass sie da hingeschrieben stehen – doch in aller Regel sind sie nicht satisfaktionsfähig. 

Gleich im Anschluss bekennt sich das deutsche Volk zu Menschenrechten. Wir haben das bislang so nicht gelesen, die Verpflichtung auf (globale) Menschenrechte erscheint bereits hier als ein erster Hinweis darauf, dass unser Regelungsinteresse über den nationalstaatlichen Horizont hinausweist, hinausweisen muss. Ich komme darauf zurück.

Das deutsche Volk sagt allerdings bei dieser Gelegenheit nicht, dass es sich zu DEN Menschenrechten bekennt, und lässt damit offen, zu welchen denn dann. Deswegen muss das Grundgesetz selber regeln, was welche sein sollen, und so kommt es, dass von den dreissig Menschenrechts-Paragraphen (im Magazin ab Seite 102 nachzulesen) wenigstens elf allerhöchst ähnlich und damit irgendwie doppelt gemoppelt sind; was im Zweifel nur deswegen nicht zu widersprüchlichen Auslegungen führt, weil die Menschenrechte keinen Gesetzesstatus haben. Es wäre aber doch eine einigermassen plausible erste Forderung an eine künftige Verfassung, in der Sache einmal aufzuräumen und, wo das nötig ist, die „übergeordneten“ Positionen der Menschenrechte mit den spezifizierenden Positionen des Grundgesetzes abzugleichen. Und schon sind wir bei

Artikel 2 

Der garantiert die freie Entfaltung der Persönlichkeit, „solange die Persönlichkeit mit ihrer Entfaltung nicht gegen die verfassungsmässige Ordnung oder das Sittengesetz verstösst.“ Das ist jetzt redundant: hier sollte, solange wir keine Verfassung haben, von der grundgesetzlichen Ordnung die Rede sein, … vor allem aber NICHT von einem „Sittengesetz“ – denn was, bitte, wäre das? Jedenfalls kein geschriebenes Recht: „Der Begriff Sittengesetz ist kein Gesetz im klassischen Sinne, sondern umfasst Regelungen, die der jeweiligen Moral- und Wertvorstellung entsprechen.“ Solche „jeweiligen“ vertreten eine äusserst wackelige Relativität, die schon in einem Grundgesetzt nichts zu suchen hat, um wievieles weniger in einer Verfassung. 

Hat man einmal damit angefangen, die Artikel auf die Begriffswaage zu legen, fällt einem bald zu jedem Halbsatz was ein: in Summe endet man wieder bei Herrn Böckenförde (den Armin Nassehi so zitiert):

„… der freiheitliche säkulare Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Ernst-Wolfgang Böckenförde sprach von einem Wagnis, das der freiheitliche Rechtsstaat eingegangen sei, gerade weil er die Freiheit nicht mit Zwangsmitteln durchsetzen kann.“

Das wird jetzt philosophisch: er muss es auch gar nicht; Die Freiheit nämlich, wir können das bei Schopenhauer [qtip:(4)| Arthur Schopenhauer, „Über die Freiheit des menschlichen Willens“, Wiesbaden 2014, S. 47 ff] nachlesen, ist ein negativer Begriff: ihr, der Freiheit, soll nichts im Wege stehen! Und so müsste der Staat nur dafür sorgen, dass sie nicht beschnitten oder beengt wird. Das versucht er. Er müsste aber auch dafür sorgen, dass sie, die Freiheit, nicht übergriffig wird; und das gelingt ihm zunehmend weniger. Denn das ist es, was der Staat nicht oder zumindest immer weniger durchsetzen kann: den Ausgleich von individueller Freiheit und Gemeinwohl. 

Im nächsten Artikel 3, zum Beispiel, so könnte man argumentieren, sollte das dort verbriefte Diskriminierungsverbot ( „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, …usw.“) auch auf die sexuelle Orientierung ausgedehnt werden. Eine heikle Angelegenheit, denn wiewohl sich solide Mehrheiten des deutschen Volkes für eine nicht länger diskriminierte Homosexualität nachweisen lassen, wollen wir aber kollektiv auf keinen Fall, dass Schutzbefohlene Opfer pädophiler Orientierung werden. Und schon gar nicht sollte irgendein schwabbeliges Sittengesetz in der Sache heute so (wie vielleicht in den 1950er Jahren) und morgen so (wie vielleicht in den 1970er Jahren) entscheiden. 

Im Artikel 4 wird die Meinungs- und Glaubensfreiheit garantiert, auch das Recht auf eine „ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Schon wieder so eine knifflige Sache: ist denn nicht die Mission ein genuiner Bestandteil der Ausübung? Ganze Kreuzzüge wurden so gerechtfertigt, und in einigen religiösen Staats- und Gesellschaftsentwürfen hält man noch heute fest an Feuer, Schwert und Fatwa. Nun will aber ich, und vermutlich eine Mehrheit, weder von der katholischen noch der evangelischen Kirche und schon gar nicht von Scientology oder dem Islam missioniert werden. Ich will GAR nicht missioniert werden. In diesem Sinne grenzwertig sind a) das Glockengebimmel [qtip:(5)| vor Weihnacht im Süddeutschen wurde ich Ohrenzeuge eines sage-und-schreibe 6,5-Minuten-Geläuts und hätte beinahe einen Hörsturz erlitten], b) das öffentlich-rechtliche Kruzifix und c) jenseits der Grenze wäre ein Muezzin. „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet“ heisst es in Artikel 4 (2). Aber wie steht es mit der ungestörten Religions-Verweigerung? Ich will das alles gar nicht und sehe deswegen durchaus Nachbesserungsbedarf. In Artikel 4 (3) überrascht uns das Recht auf Kriegsdienstverweigerung: was das genau hier zu suchen hat, erschliesst sich mir nicht: logisch gehörte es nach Artikel 12a. 

Der Artikel 5, die Meinungsfreiheit, hat viel Gutes getan: sagen können, was man meint! Mensch, das tat gut, besonders nach der Nazi- und nach der DDR-Diktatur. Ist ausser mir noch jemandem aufgefallen, dass diese Freiheit eine Downside entwickelt hat? Dabei sind FakeNews und Hass-Reden kein geringes, aber nicht das erste Problem. Vorrangig ist doch, dass Medien – und soziale Medien als Multiplikatoren – eine Dynamik angestossen haben, die die Gesellschaft sogar in ihrem Bestand gefährdet. Denn hier kommen wir zu des Pudels Kern: Die Meinungsfreiheit kann den Staat auch in Dutt reiten, sogar vernichten.

Ein sehr wichtiger Punkt mit Facetten und Ebenen

– Fälschung, Fake, die Freiheit der Wissenschaften
– Manipulation, Rollenanmassung
– Übersättigung, Problemverbrauch
– Gruppendynamik, Hysterie, Populismus

Solange es Mangel gab, war Meinungsfreiheit eine Errungenschaft. Der freiheitliche, säkulare Staat aber lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann: Etwa davon, dass die Freiheit nicht dahingehend benützt wird, mit „Haltet den Dieb“ und „Das wird man doch noch sagen dürfen“ die Grundlagen der Freiheit zu untergraben. Seit den Hitler-Tagebüchern und bis zum Relotius-Skandal haben wir allen Grund, den Sturmgeschützen der Demokratie auf die Finger zu schauen, aber die eigentlichen Gefahren gehen nicht von kriminellen Einzeltätern aus (selbst wenn sie das Vertrauen in die Kontrollmechanik des Systems erschüttern); weit gefährlicher ist die schleichende Anmassung, das subtile Unterlaufen, die kalkulierte Manipulation. Chefredakteure unterliegen dem Grössenwahn, Politiker stürzen zu dürfen, Meinungsmacher fordern ins Blaue hinein nach Gesetzen und Massnahmen. Mit einer Überschriftenpolitik ähnlich dem Rezept des Brecht’schen Konfutius werden Sachverhalte nicht behauptet aber sehr wohl insinnuiert. Im Netz findet mit dem Clickbaiting eine unappetitliche Prostitution statt, die natürlich auf den Inhalt durchschlägt. 

„Und was ich gleich sage, wird dich umhauen" [qtip:(6)|lesen Sie weiter nach einer kurzen Werbeeinblendung]

Überhaupt, die Werbung, die Finanzierung. Die Unbilden des Wettbewerbs, der Konjunkturen und Disruptionen sowie die Tatsache, dass Arbeit an und in Medien bezahlt werden muss, haben den gesamten Medienmarkt in eine Abwärtsspirale geführt, die durch das Überangebot des immer Gleichen und die nachfolgende Übelkeit vom Überfluss nur weiter angetrieben wird. In diesem Niedergang werden die legitmierenden Sachverhalte, die Arbeit an der Gesellschaft, für ein paar Aufmerksamkeitsmomente durch Überflutung abverbraucht. Und wenn schliesslich noch die sozialen Medien zu Reichweitenmotoren der Dummheit und der politischen Verkommenheit werden, dann kommt so etwas wie Brandgeruch auf: die Meinungsfreiheit verbrennt ihre Bedingungen der Möglichkeit von allen Seiten. 

Ich habe die Freiheit der Wissenschaften nicht aus dem Auge verloren: Wenn Koriphäen der Wissenschaft sich vom Drittmittelgebot (oder der eigenen Gier) in die Pflicht nehmen lassen und zwei gleichrangige Professoren zu einem Sachverhalt gegenteilige Statements abgeben (wie es in ihrer gutachterlichen Tätigkeit täglich der Fall ist), tragen sie wesentlich zur Aufweichung und sogar zur Vernichtung der Massstäbe bei. Die Relativierung der „Wahrheit“ hat nicht in den Medien begonnen.

Die logische Folge dieser Kritik der Meinung ist nicht die Abschaffung der Freiheit, sondern die Verpflichtung der Meinung auf die Wahrhaftigkeit; ob das im Alltag gelingt und wie es durchgesetzt werden könnte, ist eine zweite Frage (wie alles, was das Grundgesetz oder eine Verfassung vorgeben). Die Freiheit der Meinung verpflichtet.

In Artikel 7 steht das "gesamte Schulwesen unter staatlicher Aufsicht", gleich danach haben Eltern das Recht, über die Teilnahme von Kindern am Religionsunterricht zu entscheiden und bevor es an das Recht geht, Privatschulen zu errichten. Puuuh. Da geht schon einiges durcheinander. Man müsste mal die Sachverhalte in eine gewisse Ordnung bringen. Hier kommt es noch zu einer Überlappung oder einem gewissen Wettbewerb zwischen Artikel 7 und Artikel 30 (Die „Ausübung“ staatlicher Befugnisse sei Sache der Länder); die gehören, irgendwie, konsolidiert. Die sogenannte Kulturhoheit der Länder hat insbesondere im Schulwesen zu einer solchen Kakophonie und spektralen Unvergleichbarkeit geführt, dass es für die Zukunft des Landes einer dringenden Überprüfung bedarf, und das kann nur heissen: einer Zentralisierung zumindest der Ziele, Richtlinien und Vorgaben. 

In Artikel 9 (Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit) bekommen die Lobbies der Republik ein Generalplacet. Wieder so ein zwei-schneidiges Schwert: Willst Du den Gewerkschaften ihren Gestaltungsraum erhalten, kannst Du den Industrieverbänden das nicht verbieten. Das Dumme dabei ist natürlich: es sind zwei Paar Schuh. Die Mehrheit der industriellen Initiativen streitet sich nicht (allenfalls auch) mit Gewerkschaften (die lange schon unter „ferner …“ laufen), sondern versucht, denn Staat davon abzuhalten, das Gemeinwohl- und stattdessen das industrielle Partikularinteresse durchzusetzen. Auch hier hat sich über die Jahrzehnte eine vollkommen verkeilte Sachlage ergeben. Zyniker sehen die Lösung dieses Problems in der Globalisierung: Die Industrien entziehen sich schlicht dem staatlichen Regulierungseinfluss. 

In Artikel 10 werden das Post- und Fernmeldegeheimnis garantiert. Wir lächeln bitter. Als wenn es darauf noch ankäme. Die verfassungsgerichtlich geforderte „informationelle Selbstbestimmung“, die an dieser Stelle verankert werden müsste, wäre allerdings nur des Eisbergs Spitze. Denn im gesamten Datenraum herrscht der Wilde Westen. Nach dem Artikel 9 kommt hier der dritte Hinweis auf ein transnationales Regelungsgebot: Wenn Dir daran gelegen ist, das Individuum gegen industrielle und staatliche Willkür, Belästigung, Bevormundung und Manipukation zu schützen, wird Dir aber eine bloss deutsche Verfassung nichts nützen, ja nicht einmal eine europäische. In einem internationalen, globalen Internet ist eine lokale und partikulare Rechtslage schlicht unerheblich: hier und da wird ein Strafporto erhoben, so what!

In Artikel 12 geht es um die Arbeit: niemand darf Dich daran behindern, Deinen Beruf zu wählen, niemand darf dich zur Arbeit zwingen (ausser im Knast). Was da nicht steht ist, dass Du ein Recht auf Arbeit hast. Und vielleicht würdest Du auch nicht darauf bestehen wollen, würdest Du nicht Deinen Lebensunterhalt irgendwie verdienen müssen. Wenn wir nur wenige Jahre in die Zukunft schauen, jedenfalls müssen wir das befürchten, dann regelt der Artikel nur noch eine Luftnummer. 

In Artikel 12a steht unter (4), dass Frauen nicht zum Dienst an der Waffe verpflichtet werden dürfen. Warum eigentlich nicht? Ist das nicht diskriminierend? Der wesentliche Unterschied zur ursprünglichen Fassung bei Gründung der Bundeswehr 1955 ("Frauen dürfen auf keinen Fall Dienst an der Waffe leisten") besteht in der Verpflichtung. Nun haben wir inzwischen eine Berufsarmee, vielleicht vorübergehend, aber das ist der Stand. Verpflichtung ist also derzeit eh nicht das Thema. Auf dem Weg zu einer Verfassung müssten wir aber schon darüber nachdenken, wieweit die Gleichheit der Geschlechter eigentlich geht. Dass bei der Gelegenheit auch die immer noch bestehenden Gehaltsunterschiede (sogar strafrechtlich) geregelt gehören, ist ebenso selbstverständlich wie eine regelnde Beendigung der Quotendebatte. 

Schliesslich würde das Nachdenken auch den Artikel 16a erfassen: „Politisch Verfolgte geniessen Asyl.“ Wir wissen um das historische Gewicht des Artikels, und nicht zuletzt hat das Asylrecht als §14 in die Menschenrechte Eingang gefunden. Im politischen Einzelfall würde es wohl auch von niemandem in Frage gestellt. Die Not, es zu diskutieren, erwächst aber aus der Tatsache, dass die Nöte ganzer Völker zu Wanderungsbewegungen führen. Es ist eine krümelkackerische Argumentation, wenn diese Nöte nach Verfolgung und Folter, Krieg und Bürgerkrieg oder Klima und Vergiftung unterschieden werden: sie sind alle gleich gross und allemal natürlich „politisch“. Zugleich unterläuft die Gleichrangigkeit der Nöte die Schutzkapazität des Asylrechtes. Es ist ein geradezu gutmenschlicher Zynismus, von „reichen“ Gesellschaften zu schwadronieren und ein „Bleiberecht für Alle“ begründen zu wollen. Der Sommer 2015 hat vielleicht nicht die Grenzen der Aufnahmefähigkeit Europas gezeigt, wohl aber die mentalen Grenzen der Gesellschaften. Der Not zu begegnen, aber die eigene Gesellschafts nicht zu gefährden, ist ein Double Bind: zwei Anforderungen, die nicht gleichzeitig erfüllt werden können. Ich halte es mit der Regelung im Flugzeug: Wenn Du nicht zuerst für Dich Sorge trägst, wirst Du gleich danach auch niemandem sonst helfen können. Bevor es die Aufnahmeländer zerreisst, gar einem neuen Faschismus den Weg bereitet, muss das Thema Flucht, Verfolgung und Migration nicht nur diskutiert, sondern (global) geregelt werden.

Das Kleingedruckte

Kurzum: Wenn wir einmal anfangen, dem Grundgesetz auf den Zahn zu fühlen, bleibt rasch kein Wort mehr neben dem anderen! Die Grundrechte enden mit Artikel 19. Bis Artikel 38 wird sodann das Verhältnis von Bund und Ländern geregelt, bevor es in die staatlichen Details geht: Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident, Bundesregierung, Gesetzgebung usw.. Ich habe fast alles einmal gelesen, aber was mein Interesse, meine Ausdauer und meine Kompetenz angeht, so würde es mich überfordern, in der gleichen kritischen Revision die Paragraphen bis zum Ende durchzunehmen. 

Das wäre aber auch nur in Teilen sinnvoll. Schon in Artikel 1 (die Menschenrechte) geriet ich ins nationale Stolpern, nochmals in den Artikeln 9, 10, 12, 16a – und schliesslich beim Verhältnis von Bund und Ländern: Bei einer Neubestimmung stünde mindestens „Europa“ über der Ziellinie! Mir wurde im Verlauf meiner Überlegungen klar, dass die verfassungsrechtlichen Grundlagen, die wir wünschen sollten, über den deutschen, ja, mit Blick auf die Ökonomie, sogar über den europäischen Tellerrand hinausweisen müssen; anders gesagt: Mit Blick auf die Zukunft wäre eine nationale Verfassung zu kurz gesprungen. Hans Magnus Enzensberger bezeichnete den souveränen Nationalstaat einst als völkerrechtliche Fiktion, das war militärisch gemeint; inzwischen hat er sich auch in ökonomischer und mehr noch in ökologischer Hinsicht überholt.