Was gehen mich eigentlich die US-Wahlen an?

Lektüre für das Wartezimmer

Worüber man nicht sprechen kann, ...

03-11-2020
 

Mein Vorsatz heute morgen: prüfen, ob irgendetwas sinnvolles gesagt werden könnte.
Ich glaube nicht!

Das erste, das mir dann doch einfällt, ist über Wochen und Monate unerwähnt geblieben, obwohl es doch so offen zutage liegt:

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I
Wie kann es sein, dass nach fast 300 Jahren und 45-fach geübter und eingeschwungener Praxis der Präsident des Landes behaupten kann, dass die Wahlen gefälscht werden könnten? Das ist schon im Ansatz erstaunlich: Wahlfälschungen kennen wir – von Amtsinhabern! Das ist auch gewissermassen logisch, denn die verfügen über eine Vielzahl exekutiver Mittel, die einem Opponenten nicht zugänglich sind. Wie würde der das anstellen? Sind denn nicht allenhalben vereidigte Amtsträger und Wahloffizielle im Einsatz? Bitte sehr, hier und dort eine Urne klauen, soviel kann ich mir vorstellen, aber Fälschungen, die in die Millionen und Abermillionen gehen (damit sie Ergebnis-relevant werden), und das merkt dann keiner?! Wie und warum überhaupt könnte ein Wahlvorgang so luftig und lückenhaft organisiert sein, dass dunkle Zugriffsmöglichkeiten entstehen? Eben das ist doch das Wesen einer eingeübten Demokratie, dass sie die Verfahren der Wahl gegen jeden Zweifel gesichert hat! 

II
Der beunruhigendste Sachverhalt gleich nach dieser Beobachtung ist die Statistik der Waffenverkäufe im letzten Monat: die um 66% angewachsen sind. Gegenüber 2010 hat sich die Anzahl der „Background Checks“ verdoppelt. Vermutlich finden sich die Waffen jetzt auch in jenen Haushalten, die sich „eigentlich“ für eine Verschärfung der Waffengesetze aussprechen, nun aber „in Sorge um die eigene Sicherheit“, ihrerseits der Eskalationsspirale folgen. Die Bilder der Eheleute McCloskey aus St. Louis, der Proud Boys oder vergleichbarer Gruppierungen, stützen diese Sorge – und wenn ich bekennende Trumpwähler oder Waffenträger in der Berichterstattung reden höre, kommen mir Zweifel, ob ich nicht auch „sicherheitshalber“ eine Waffe in den Nachtschrank legen würde. Überhaupt diese „Testimonies“! Ich frage mich, wie ein Land die grösste Wirtschaftnation der Welt werden und bleiben kann, wenn es von dieser strukturellen Grenzdebilität unterwandert ist. 

III
Das wäre natürlich eine dumme Frage, würden nicht namhafte Teile der diese Wirtschaft anleitenden und administrierenden Eliten ebenso dumm daherreden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich dann aber, dass „wir“ Alt-Europäer, die wir uns von den Ausbildungsstätten der USA so sehr beeindrucken lassen, einen Aspekt des Themas Bildung nicht verstanden haben: Beispiel Case Studies. Amerikaner lernen nicht das Denken sondern das Funktionieren. Wie geht das? – nicht warum. Das zeigt sich in allem, insbesondere in der hemmungslosen Ergebnisorientierung. Wie das Gas aus der Erde kommt, ist doch wurscht, Hauptsache, wir schmeissen den Arabern nicht noch mehr Dollars in den Rachen. Ich selbst habe diesen Pragmatismus oft bewundert, schon weil ich mein nörgeliges Nachfragen einfach nicht abstellen kann. Jetzt, in der Krise, zeigt sich, dass sich der Pragmatismus grundsätzlich verschärfend auswirkt. So, wie diese Nation das Warum ignoriert, so weiss sie auch nichts über das Ich. Was muss ich tun, um Erfolg zu haben? Die Frage ist immerhin beantwortbar. Aber warum tue ich, was ich tue – diese Frage erfordert die Benennung von Motiven und Bewertungen; Antworten darauf würden die Widersprüche in den Schrägen und Abgründen des eigenen Kartenhauses offenlegen. Und Zweifel sind grundsätzlich keine Erfolgsfaktoren!

IV
Besonders schmerzhaft ist es, wenn in der polaren und gefährlichen Gemengelage diejenigen Freunde und Netzwerke verloren gehen, auf deren Integrität und Rationalität die über lange Jahre gewachsene Bindungen beruhten. Ein Freund geriet durch die kritischen Gespräche, die wir in diesem Jahr geführt hatten, in einen regelrechten Notstand: „Was soll ich denn tun!?“ entgegnete er mir auf meine ätzenden Kommentare zur Lage des Landes. Seine Frau riet ihm, den Kontakt abzubrechen: „Der tut Dir nicht gut.“ Dazu kommt, dass der Freund im beruflichen Umfeld nicht mehr offen sprechen kann: die erste Welle eines beginnenden Faschismus erfasst die Köpfe, das Sagbare. Und dass auf beiden Seiten! Thomas Assheuer konstatiert in der ZEIT zwei Plagen, die die USA heimsuchten: „Die eine Plage trägt den Namen Donald Trump; die andere ist die Kultur- beziehungsweise die Identitäts-Linke. Groß geworden im Verwöhnaroma von Eliteuniversitäten, zerstöre sie mit ihrem Giftcocktail aus Gender-Theorie und Postcolonial Studies die liberale Gesellschaft. Ihr Erkennungszeichen seien Meinungsterror und Redeverbote.“ 

Viele Menschen, und eben genau jene, die sich von keiner Seite vereinnahmen lassen und ganz ohne Frage noch alle Tassen im Schrank haben, geraten auf diese Art in eine intellektuelle und emotionale Isolation, eine Abwärtsspirale, die schier nicht auszuhalten ist, und jedes Wort, dass „wir“ ihnen zur Ermutigung oder Beruhigung reichen wollten, vertieft die Kerben in der Seele.  

 

V
Nun – ich bin kein Amerikaner. Ich kann auf die Verhältnisse dort nicht einwirken und wüsste nicht einmal wie! Wenn mir also etwas „Sinnvolles“ zu den Wahlen dort einfallen soll, so kann es eigentlich nur rückbezüglich für mich, für uns gelten. 

Wir reden gern und leichthin von Aufklärung oder beklagen deren Verlust. Das reicht nicht! Ich meine, dass wir eben diesem Begriff und dem damit verbundenen Rational nachspüren und die Ergebnisse des Rationals verteidigen müssen. Der Kern des Rationals ist – stets – die Besicherung der Fakten: Was ist!? In originären, dynamischen Situationen (also solchen, in denen wir nicht auf gesicherte Beobachtungen zurückgreifen können), ist das nicht immer leicht zu erkennen. Christian Drosten macht in einem Vortrag (vom 30-X-2020) deutlich, was an Fehlinformationen aufgelöst werden muss, um zu verlässlichen Beschreibungen und Interpretationen zu gelangen – beispielhaft das für die öffentliche Diskussion hoch bedeutsame Missverhältnis zwischen Infektiosität und Diagnose, wie es aus der ZEIT/Drosten-Grafik rechts hervorgeht.

VI
Bei dieser Aufgabe erweist sich die entwickelte Mediokratie als schädlich, zumal, weil ihr konstitutives Element, die gesellschaftliche Öffentlichkeit, von Profitinteressen geprägt ist. Dann nämlich macht nicht die Nachricht den Dollar oder Euro, sondern die Differenz zur Nachricht. Die Aufmerksamkeitsökonomie speist sich nicht aus der Bestätigung dessen, was ist, sondern aus dem was, vielleicht, eigentlich ganz anders ist. Medien – und facebook oder Bild mehr als die sogenannten Qualitätsmedien, doch auch die werden vom Clickbaiting vergiftet – sind nicht an der Realität interessiert, sondern an jener Verwirrung, die (ihre) Erklärungen fordert (und bezahlt).  Das, übrigens, ist eigentlich eine Sicherheitsfunktion: „Tiger von Westen!“/„Tiger von rechts!“/„Da raschelt was auf 10 Uhr!“/„Tiger!“ – durch die Sichtung und Bewertung abweichender Behauptungen „sichern“ wir die eigene Anschauung.

Nun liegt diese Diagnose scheinbar über Kreuz mit unserem Verständnis von „Meinungsfreiheit“. Das wird man ja noch sagen dürfen … Aber auch das ist nur eine ungenaue Betrachtung. Zunächst sind abweichende Aussagen in Sachen Tiger äusserst gefährlich! Dann aber auf gesellschaftlicher Ebene unterliegt die „gesagte“ Meinung anderen Kriterien und Verantwortlichkeiten als „mediale“, etwa in Sachen Reichweite und dabei besonders mit Blick auf den Multiplikatoreffekt, also das Kaskadieren von Meinung durch den öffentlichen Raum. Hinzu kommt: Meinung, die als Meinung gekennzeichnet ist, verunsichert uns selten. Unsere gewachsenen Vorstellungen und ihre Trägheiten halten das im Zaum. Die bis zur Paralyse der Gegenwart sich aufschaukelnde Verunsicherung entsteht aber, wenn der Boden unter den Füssen ins Wanken gerät: nämlich wenn die Fakten! aus durchsichtigen aber verdeckten Interessen gebeugt werden. Wenn Meinungen, als Welterklärungen, auf vorsätzlich falschen Fakten basieren, wackelt die Welt (auch dazu siehe Drosten).

Man darf diese Hoffnung nicht übertreiben und jedenfalls wird sie sich nicht von allein oder en passent erfüllen, aber vermutlich gibt es einen Ausstrahlungseffekt des Trumpism auf die Diskussion hier. Wir erleben am Beispiel USA, welche Realität entsteht, wenn die Realität „nicht mehr gilt“. 

VII
Natürlich, ich sag das nur der Vollständigkeit halber, gibt es eine Vielzahl ökonomischer und geopolitischer Sachverhalte, die auch auf unser Leben in Deutschland und Europa durchschlagen – werden, und zwar sowohl wenn Trump als auch wenn Biden gewinnt.
Insofern ist die Eingangsfrage rhetorisch gestellt.
Es macht aber bei dem derzeit herrschenden Bodennebel keinen Sinn, darüber zu spekulieren.