Christoph ist schuld

Schuld und Sühne oder Stolz und Vorurteil

Über Verantwortung

13-11-2016
 

In seinem Team, so hat es mir einmal mein Bruder erklärt, sei die Schuldfrage geklärt: es sei Christoph. Ich hatte ihn verständnislos angeschaut. „Naja, da passiert irgendein Scheiss, kommt ja mal vor. Bei uns im Team ist Christoph schuld. Grundsätzlich. Immer. We blame Christoph und Punkt. Weisst Du, das hat Vorteile, wenn die Schuldfrage erstmal geklärt ist, können sich alle an die Lösung des Problems machen.“

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Ich finde das praktisch. Und doch, es stinkt, hängt immer noch so ein Hauch von Schwefel und Ammoniak in der Luft. Denn die Sachen wollen ordentlich wegsortiert werden, es geht auch um soziale Hygiene, um Verantwortlichkeit, Wahrhaftigkeit gar. In den letzten Tagen wurde hier und überall die Schuldfrage auf das Allerheftigste diskutiert, und pardon, es geht mir auf … sagen wir: gegen den Strich.

Es handelt sich bei dem hier zugrunde liegenden historischen Gegenstand um eine Wahl: eine Wahl in den USA. Und da ist es, meine ich, zunächst einmal klar, dass die Amis Schuld sind, sie ganz allein. Was da an aufgerissenen Hemden hierzulande alles Mea Culpa ruft, das ist schon wieder so eine Hybris, eine Anmassung. WIR haben erst einmal gar nichts mit der Wahl in den US zu tun. Vielleicht, dazu komme ich noch, haben wir uns der Fehleinschätzung schuldig gemacht.

Die Schuldfrage sollte also in den und für die USA untersucht und bewertet werden, das ist mal Punkt eins.
Aber damit ist es noch nicht getan.

Denn auch als Aussenstehende können wir beurteilen, dass eine Wahlbeteiligung von 50,wenig Prozent zu allererst „die Schuld“ auf die Schultern der gleichgültigen Hälfte der US-Bevölkerung wuchtet. Offenbar ist es diesem "Land", diesem halben Kontinen ziemlich wurscht, was in seinem Namen geschieht. Da gibt es diesen schönen Song in "Nashville" von Robert Altman: "We've must be doing something right, to last 200 years."

Und in der Hierarchie der Schuldtitel käme als nächstes wohl ein System, in dem nicht zum ersten Mal das „Wahlmänner“-Verfahren die reale Stimmenverteilung überstimmen wird. Inzwischen gibt es "Initiativen", die die Wahlmänner aufrufen, "nach ihrem Gewissen" abzustimmen. Ich stell mir das grad mal vor ...

Und schliesslich geht es bei jeder Schuldfrage um eine konkrete Handlung, die Stimmabgabe in diesem Fall. Ganz konkret: wer war's? Und hier haben zu allererst jene Schuld auf sich geladen, die das Desaster (... wir unterstellen für selbstverständlich, ich auch, dass es eines geben wird) gewählt haben – und sei es, in dem sie ihre Stimme einem Dritten gegeben haben.

Ich meine, damit ist der unmittelbare Schuldbereich in der verantwortlichen Breite, Kausalität und Reihenfolge abgedeckt.

Und ja,

es gibt auch mittelbare Verantwortlichkeiten. Die sind schwer zu fassen, unscharf, kaum beweisfähig; das heisst aber nicht, das sie inexistent sind.

Als solche mittelbaren Ursachen würde ich den unübersehbaren Raum der Meinungsbildung fassen, der im Zweisamen, im Familiären anfängt, über das Lokale zum Regionalen usw. reicht, der das Berufliche umfasst und schliesslich in das Öffentliche in seinen mannigfachen Erscheinungsformen auskragt. In diesem nebulösen, nicht in persönliche Verantwortung auflösbaren Raum werden Stimmungen erzeugt, Prägungen verursacht, Polarisation und Eskalation veranstaltet - ohne eindeutige Täterprofile, Gruppenprofile, Klassenprofile.

Aber gleichgültig, was in diesem Gewirr an „raisonnierenden“ Öffentlichketien stattfindet, es entbindet keinen Einzelnen von den ihm oder ihr zuzuweisenden Handlungen.

Wir haben jetzt hoffentlich alle dieses grandiose Video von Jonathon Pie gesehen, das gleichermassen als eines der amüsantesten Beispiele für die gandiose Verkennung der Verantwortlichkeiten erscheint, wie auch für die schreiend pointierte Ausleuchtung des „Ursächlichkeitsraumes“ bei gleichzeitigem Betrieb der Nebelmaschine unter Volllast. Köstlich, Treffer, versenkt. Wasn Scheiss. Es verteilt Schuld wie Streugüter über all jene, die "es", das zu Sühnende, sicher nicht getan haben, und (deswegen funktioniert es so gut) ohne dabei irgendwen zu benennen. Der Deutsche trägt Lederhosen, und die Linke ist ist an Donald Schuld.

Noch nicht fertig – noch eine Wendung: auch diese Ausleuchtung mittelbarer Verantwortung, in dem sie wieder die falschen Ursachen (sich selbst) in den Vordergrund rückt, ignoriert in fabelhafter Selbstüberschätzung, dass die erste „mittelbare“ Ursache für die radikale Stimmung gegen das System in der unfassbaren Zurichtung der US-amerikansichen Lebensumstände zu suchen ist, in der Vergrässlichung von Lebensraum, von Ernährung, von Kultur, in der Korruption der Administration: IM GANZEN LAND. Vielleicht, bestimmt, ist der Washingtoner Politzirkus bis in die Zahnwurzeln korrupt, nur – um welchen Faktor korrupter ist die Administration im ganzen Land? Christoph .. wohnt in Washington – Haltet Den Dieb: so geht das.

Letzter Punkt: die Fehleinschätzung

Schuldig Euer Ehren. Und? Was ist die Konsequenz davon? Vorher ist man immer dümmer! Die Frage, die tatsächlich zu beantworten wäre ist, ob es einen Weg gibt, die Filterbubble zu vermeiden? Geh mal aufn Samstag an den Parteistand in der Innenstadt. Durchgägngige Erfahrung: Those who know, know. Others won’t listen. Alles nur Sender, niemand will hören – und Du selbst bist nicht frei davon: Dein Kontext, Dein Kanon, Deine Wahrheit. Und das ist der „gutwillige“ Fall. Geh mal aufn Montag nach Pegida; gut, dass wir’ne Krankenversicherung haben. Was, bitte, ist Gesellschaft: mit Menschen aus einem anderen Lebensentwurf oder Lebensschiksal findest Du keine Gesprächsgrundlage, keine Sprache, keine Erfahrungen, keine Vorstellungen, keine Ziele.

Übrigens meine ich nicht, dass Änderungen unmöglich sind. Wer sich entscheidet, dem anderen (zunächst einmal still, sozusagen inkognito, vielleicht bei einem Vortrag) zuzuhören, der mag auch seine Meinung ändern, erweitern, abschwächen, gar konvertieren. Kann sein, nur: Du weisst es nicht, Du erfährst es nicht, und nachlesen kannst Du es auch nirgendwo.

Damit sind wir bei den Medien; die sehen sich, wenn überhaupt, als Dienstleister ihrer Zielgruppen. Das heisst doch, dass EINE zentrale (auch: Marketing-) Leistung der Medien darin besteht, genau das auszublenden, was als nicht Zielgruppen-adäquat angesehen wird. Von wegen: Soziale Medien – The Filterbubble starts here! Das gilt auch in jeder Richtung: Niemals berührt die Frau im Spiegel ein ernstes Thema, niemals führt die Jungleworld ein Gespräch mit Thilo Sarrazin, niemals bringt die Gala ein Gespräch mit dem Papst.

Was ich damit sagen will: die Fehleinschätzung ist eine conditio sine qua non. Dein Bewusstsein bestimmt Dein Sein – et vice versa.