Mariae Empfängnis

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

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05-05-2019
 

Ich weiss nicht, wie mir geschah, in zweien meiner Blogposts (Jennifer Lawrence, zwei, Das Juste Milieu) häuften sich Kommentare – und ich verstand sie nicht, mehrheitlich.

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Zunächst konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass einige oder gar nur ein Kommentator sich hinter verschiedenen Namen versteckte(n); am meisten irritierte mich aber, dass sich in diesen Kommentaren Argumente mit Absonderlichkeiten mischten, und es mir partout nicht gelingen wollte, den Zusammenhang zwischen dem Absurden und dem Diskursiven nachzuvollziehen. Besonders trollige Kommentare habe ich gelöscht. Ich werde mich aber auch in Zukunft bemühen, zunächst zu verstehen, ob in einer abseitigen Darstellung von irgendwas möglicherweise dieses oder jenes Argument enthalten ist, das mit dem, was ICH in meinem jeweiligen Blogpost behandelt habe, in einem Zusammenhang steht – und sei es ein entfernter. Soweit Vorrede. 

Über die Vergiftung der Wörter

Was kann Wagner dafür, dass Hitler ihn mochte? Wer kann die „Künste“ eines Tom Cruise ohne Vorbehalte würdigen, noch kritischer wird es bei John Travolta? Ist alles Denken Martin Heideggers von seinem Freiburger Rektorat und den „Schwarzen Heften“ diskreditiert? Kann der kaltblütige Killer ein guter Vater sein? Wie können pädophile Kriminelle als Diener ihres Gottes bestehen?

Thea Dorn“, möglicherweise verwandt oder verschwägert, fragt danach, so interpretiere ich das, ob es eine Grenzlinie gibt, jenseits derer ein Argument von den Zielen seines Benutzers vergiftet wird. Ich habe das Folgende nicht geprüft und nach Lage der Berichterstattung ist es eher unwahrscheinlich, aber es könnte sein, dass Anders Behring Breivik, der norwegische Massenmörder von Utøya, in seinen im Netz verbreiteten Vorstellungen „dieses oder jenes“ gesagt hätte, dem, sei es aus Gründen der Logik oder der Moral, nicht zu widersprechen wäre. Dito: Sarrazin, Thunberg, Palmers usw. 

Die Frage ist: „dürfte“ ich solche Argumente nutzen? 
Oder, in der verschärften Variante: Dürfte ich sie gar zitieren? 
Oder aber müsste ich, wie es die Frage nahelegt, all das, was auch immer von „indizierten“ Personen gesagt wird, ablehnen, ignorieren oder gar bestreiten?

Das ist ein schwieriges Gelände!

Es gibt da eine Familie Sackler, die zu den bedeutendsten Sponsoren der US-amerikanischen Museums- und Universitätslandschaft gehört. Das Geld, das diese Familie (aus durchsichtigen Motiven) grosszügig herschenkt, stammt aus den Milliardengewinnen ihres Pharmaunternehmens Purdue, das unter anderem das Mittel OxyContin zur (lange Jahre) weltweit „erfolgreichsten“ Arznei gemacht hatte. 

In Folge ausserordentlich erfolgreicher Anstrengungen im Marketing, in der Lobbyarbeit und bei der Überzeugungsarbeit ihrer „Pharmareferenten“ gilt eben dieses Mittel als ursächlich für die grösste Drogenkrise, die je die USA überzogen hat und verantwortlich für 10.000de von Toten – und womöglich fehlt da noch eine Null. Inzwischen haben sich einige der Institutionen (obwohl auf die Mittel tatsächlich dringend angewiesen) von der Sackler-Familie abgewandt und mindestens „unwohl“ ist wohl allen.

Am einfachsten macht es uns der eindimensionale Mensch, der das Falsche tut und das auch richtig findet: Gordon Gekko. Helmuth Kohl. Franck Ribéry. Julian Assange. Martin Winterkorn. Beppe Grillo usw.. Gleich danach wird es grau, uneindeutig, glitschig. Die Spontis haben dafür seinerzeit die Parole ausgegeben, dass man mit seinen Widersprüchen leben müsse. Naja, auch sie haben es sich einfach gemacht. 

Die genannten Beispiele liegen weit auseinander, verweisen in ihrem Kern aber auf die eine Frage, ob irgendeine Transaktion (das reicht vom „Aussprechen eines Argumentes“ über „mitmenschliche Fürsorge“ bis zum „Hergeben einer Spende“) von der „moralischen“ Position oder gesellschaftlichen Bewertung belastet ist, die der „Emittent“ einnimmt, innehat oder die ihm oder ihr zugewiesen ist. Fast könnte man sagen: in dieser Frage kristallisiert der Zeitgeist! 

Bekanntes Beispiel: Deutschland schafft sich ab. Wenn in einer Population (A) alle gebährfähigen Frauen im Durchschnitt 3,5 Kinder bekommen (vielleicht sollte man das nochmal prüfen) und in einer anderen Population (B) die Reproduktionsrate bei 1,5 liegt, dann wird – unabhängig von der Grösse der Populationen zu einem Zeitpunkt 0 – irgendwann die Population A grösser sein als die Population B. Das ergibt sich aus den niederen Regeln der Mathematik, und zwar auch dann noch, wenn das „Argument“ von Herrn Sarrazin vorgetragen wurde. Anders gesagt: Um Herrn Sarrazin nachhaltig zu widersprechen, braucht es andere Argumente. Wenn sich die Populationen A und B so verhielten, wie oben beschrieben, dann hätte Herr Sarrazin Recht – und wer mit ihm streitet, müsste mindestens die Mathematik zunächst einräumen. 

Das Problem ist natürlich, dass es schwer ist, Herrn Sarrazin gültig zu widerlegen; denn die Entwicklung von Populationen findet in der Realität auf dem Zeitstrahl statt, von dem ein gehöriger Teil in der Zukunft liegt. Damit das Szenario des Herrn Sarrazin eintritt, müssen

  1. die Entwicklungen unverändert über sehr lange Zeiträume (Vergleichsdaten gibt es hier) gleich bleiben und
  2. die Populationen für genau diese langen Zeiträume distinkt bleiben. Dass
  3. andere Parameter hinzu kommen (Abwanderung, Adaption, Katastrophen, Kriege, Krisen, … Zuwanderung,), die die niedere Mathematik verwirren, lassen wir einmal aussen vor.

Während es also mathematisch relativ einfach wäre, das vermeintliche Aussterben des Deutschen Volkes zu behaupten, ist es sozio-demografisch und argumentativ relativ schwer, diese Behauptung zu widerlegen. Selbst wenn am Ende der Diskussion vom Aussterben nichts übrig bliebe: k(aum e)eine Diskussion hielte bis zu diesem Ende durch. Es hat sich, im Gegenteil, eine Mechanik eingeschlichen, die diesen Diskussionsverlauf abkürzt, indem sie das jeweilige Argument mit der Person verschränkt und damit „in-diskursiv“ gestellt hat.

Andere Aspekte beeinflussen die Antwort

Etwa, dass die Summe der Argumente endlich ist. Soll eine aufgeklärte Abwägung stattfinden, so kann man schlicht nicht jene unterschlagen, die dummerweise von unpassendem Personal geclaimt worden sind – zumal es antagonistische Positionen gibt, die jeweils anderes Personal (und damit: Argumentationen) für unpassend halten. 

Hinzu kommt, dass auch hier „Zeit“ im Spiel ist: selbst das unpassendste Personal lebt! Dass Saulus zum Paulus werden konnte, ist eine sehr alte Geschichte, und sie ist uns in der Historie millionenfach wiederbegegnet. Wenn nun aber der von seinem jugendlichen Glauben längst abgefallene Jung-Nazi immer noch (heimlich?) denkt, sozusagen trotzdem, dass eine ganze Reihe der Ursachen seines „überwundenen“ Nazi-Glaubens (namentlich in Ostdeutschland) fortbestehen? Oder nehmen wir Herrn Heidegger, der in späteren Jahren (wachsweich) seinen „Irrtum“ beklagt? Hat er denn nun eine demokratische Grundhaltung? Die auch sein früheres Geschwurbel, äh, ja was? Negiert? Legitimiert? Neutralisiert? Und fand der begriffliche Feinmechaniker dafür die richtigen Worte?

Mir ist selbst schon des öfteren aufgefallen, dass ich ein Mensch voller Widersprüche bin. So bin ich zutiefst überzeugt, dass die Welt einen ökologisch ausgerichteten Systemwechsel braucht, selbst aber lebe ich in Sünde (in ökologischer, versteht sich). Der Geist ist willig, da bin ich Katholik! Meine Überzeugungen sind deswegen nicht falsch, allenfalls ist meine Praxis bigott. Ich fürchte, das geht vielen Menschen so: es gibt kein richtiges Leben im Falschen.

Und ich sehe noch einen anderen Punkt: Zu anderen Zeiten, an anderen Orten, unter anderen Umständen gelten andere Massstäbe. Der Versuch, den westlichen Wertekanon (whatever that is) auf die Lebensverhältnisse in – sagen wir – Lybien, Pakistan, Paraguy oder Eritrea anzuwenden, erscheint eurozentrisch und mehr als nur fragwürdig. So dargestellt mag man dem leicht zustimmen, wenn wir aber auf den Jahrhunderte alten Anti-Semitismus zurückblicken, auf dessen Protagonisten einer anderen Epoche, soll dann gelten, was HEUTE gilt? 

Relativitäten! 

Was kann Wagner dafür, dass Hitler ihn mochte? Nicht nichts! Sein Judenhass war anerkannt, die Meistersinger waren die offizielle Reichsparteitagsoper. Mit seinen Rauschgift-Partituren hat er eben AUCH diese nicht enden wollenden germanische Helden-Saga kolportiert, eine eintausend Jahre vergangene Weltanschauung, die noch heute in den Programmheften ausdünstet. Von dem unsäglichen Gesinge einmal abgesehen: Form UND Inhalt!  

Die Parameter flottieren, vielleicht. Aber wir können die Dinge sehr wohl auf ihren Signalcharakter befragen: WAS sagst Du mir damit: eigentlich? Und wir können die Argumente sehr wohl in ihrem Kontext analysieren: WAS versuchst Du mir gerade unterzujubeln? Nehmen wir Emil Nolde, der in den Kommentaren meiner Blogposts eine hartnäckige Präsenz erfahren hat. Kann man Nolde „ohne Kontext“ überhaupt an die Wand hängen? Das Bild Melkmädchen II stammt von 1939; Das verlorene Paradies von 1921; Iris mit Stiefmütterchen aus 1929. Mitunter gelten seine Werke, „obwohl expressionistisch“, als „schön“. Ich habe die Bilder einmal in einen Kontext gestellt … 

Was kann Hitler dafür, das Nolde ihn verehrte? Dass Heidegger mit ihm eine neue Zeit anbrechen sah? Scheinbar oder offenbar wenig. Scheinbar war AUCH der Nationalsozialismus eine Projektionsfläche, die nicht alles willig zurückspiegelte, was auf sie geworfen wurde. Offenbar repräsentierte er vielmehr Machtpolitik, und zwar eine, die sich von keinem opportunistischen Hanswurst in Haftung nehmen liess – und sei er noch so anerkannt. 

Was wir im kulturellen Raum vorfinden, sind keine objektiven oder göttlichen Manifestationen sondern Artefakte. Da war jemand beteiligt, da hat jemand eine Spur hinterlassen. Insofern sind diese Artefakte auch nicht wertneutral. 

Aber! 

Kein Jemand ihrerseits ist eine Figur eigenen Rechtes. Alles was sie oder er hervorbringt, hervorbringen kann, ist zivilisatorisches Ergebnis, geschichtlich gebunden und abgeleitet. Es ist also gar nicht möglich (oder doch nur höchst! selten), dass das Einzelne einen kulturellen Sachverhalt „vollständig mit sich selbst“ kontaminiert; die Mehrheit allen Denkens ist Zivilisation (sogar die unerfreulichen Anteile). Und wenn das richtig ist, dann kann ich das richtige Argument auch vom falschen Protagonisten nehmen und in meinen Kontext stellen.

Das halte ich für ein Stück Aufklärung.

12-05-2019

Hitler hat auch nie bestritten, daß eins plus eins zwei ergibt. Werden Sie ihn jemals damit zitieren? Sarrazins mathematischen „Erkenntnisse“ sind Trivialitäten aus der Grundschulfibel. Beide Autoren benutzen aber diese Gemeinplätze um „Beweise“ für Behauptungen zu simulieren, die sich weder mit noch ohne dieses pseudo-wissenschaftliche Ornat beweisen lassen.

Wenn ich schon zitierte Banalitäten mit einem Autornamen schmücken möchte, warum sollte ich mich dann für Heidegger, Hitler oder Haarmann entscheiden und nicht für Jesus Christus, Mutter Theresa oder Greta Thunberg?

12-05-2019

Sehr geehrter Herr van Deelen,

die Fertilitätsrate, bei der die Bevölkerung konstant bliebe, bezeichnet man als das „Ersatzniveau der Fertilität“. In modernen Gesellschaften mit geringer Säuglings- und Kindersterblichkeit geht man davon aus, dass rechnerisch etwa 2,1 Kinder pro Frau geboren werden müssen, um die Bevölkerung ohne Wanderung langfristig auf einem konstanten Niveau zu halten. Diese Zahl ist nicht exakt 2, weil das Geschlechterverhältnis bei der Geburt nicht 1:1 ist, sondern auf 1.000 Geburten nur etwa 485 bis 490 Mädchen kommen, und weil auch in höher entwickelten Ländern einige Frauen sterben, bevor sie die Menarche erreicht haben. In China wäre durch das sehr ungünstige Geschlechterverhältnis von 119 Jungen zu 100 Mädchen eine Fertilitätsrate von 2,38 zum Erhalt der Bevölkerung nötig.

Die Nettoreproduktionsrate berücksichtigt das, indem nur Töchter gezählt und die altersspezifischen Sterbeziffern eingerechnet werden, wobei Letztere allerdings ebenso wie die Fruchtbarkeitsziffern als konstant angenommen werden. Eine echte prognostische Aussage ist also in keinem Fall enthalten.

In Ländern, in denen die Kindersterblichkeit höher ist, ist zum Ausgleich eine höhere Fertilitätsrate erforderlich, um eine stabile Bevölkerungszahl zu gewährleisten. Da in einigen Regionen die Kindersterblichkeit bis zu 50 % beträgt, ist dort eine Fertilitätsrate von etwa 4 zur dauerhaften Erhaltung der Bevölkerungszahl notwendig.

Auch bei einer Fertilitätsrate unter 2,1 ist ein vorübergehendes Bevölkerungswachstum möglich, wenn die Sterblichkeitsrate gering ist und solang die gebärfähigen Jahrgänge stark besetzt sind. Nach einiger Zeit kommt es dann aber trotzdem zu einem Bevölkerungsrückgang, es sei denn die Zuwanderung von außen (siehe Migrationssaldo) gleicht den natürlichen Bevölkerungsverlust aus. Besonders deutliche Beispiele hierfür sind China und Thailand, aber auch in Deutschland und vielen anderen höher entwickelten Ländern war das lange Zeit der Fall oder ist derzeit so.

Obwohl Fertilitätsrate wie Kohortenfertilitätsrate ein Maß für die Reproduktion darstellen, unterscheiden sie sich deutlich.

Die Fertilitätsrate unterliegt innerhalb weniger Jahre mitunter großen Schwankungen. Die Fertilitätsrate eines Jahres wird unmittelbar durch akute Ereignisse beeinflusst. Dazu zählen zum Beispiel Kriege, Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen. Längerfristige Änderungen bei der Kohortenfertilitätsrate basieren z. B. auf großflächiger Zunahme der Bildung insbesondere bei Mädchen und Frauen, der Erfindung, Etablierung oder Einschränkung von Verhütungsmitteln, staatlichen Maßnahmen, wie z. B. die Ein-Kind-Politik zur Kontrolle des Bevölkerungswachstums in der Volksrepublik China oder staatliche Familienförderung z. B. in Deutschland.

Die Kohortenfertilitätsrate unterliegt keinen schnellen Schwankungen, da in ihr alle Effekte zusammengefasst werden, die im Laufe von rund 30 Jahren auf die Fertilität eines Frauenjahrgangs wirken: So kann es sein, dass ein Frauenjahrgang von plötzlich auftretenden Änderungen nur in einem Teil der gebärfähigen Phase betroffen ist, der nächste Jahrgang dann aber ein Jahr länger und so fort. Auf diese Weise kann es auch zu einer Überschneidung von sich widersprechenden Effekten kommen. Beispielsweise beeinflusst das Timing (zum Beispiel Aufschieben) von Geburten unmittelbar die Fertilitätsrate, an der Kohortenfertilitätsrate ist dieses Timing aber nicht mehr erkennbar.

Mag sein, die Zahl der Menschen, die Sarrazin hinter vorgehaltener oder nicht vorgehaltener Hand recht geben, ist beträchtlich. Und sein berüchtigtes „Lettre“-Interview war im Jahr 2009 sogar in der Auswahlliste des rechtsradikal unverdächtigen Henri-Nannen-Preises. Was aber besagt das? Redet hier einer für alle? Zieht man ab, was bei der Rezeption seines Buches nur Rufmord oder pure Ideologie ist, so bleibt ein ganz anderer Befund: Sarrazins Thesen laufen auf eine vollständige Neudefinition unseres Begriffs von Kultur hinaus.

Zunächst: Dieses Buch hat nicht Thilo Sarrazin verfasst. Es wurde von einer Politik geschrieben, die seit Generationen nicht mehr in Generationen denkt, sondern in Monaten. Sarrazin war lediglich der Ghostwriter der Gespenster, die uns jetzt heimsuchen. Umso erstaunlicher die damalige Vorabrezension der Bundeskanzlerin, die das Buch wahrscheinlich nicht sehr konzentriert gelesen hat. Sarrazins Buch sei „nicht sehr hilfreich“ bei der Integrationsdebatte, ließ sie über ihren Regierungssprecher mitteilen. Sie war damit, wie auch der 2010 inexistente neue Bundespräsident, im Begriff, die Spaltung der Gesellschaft zu befördern. Jeder, der Sarrazins Buch gelesen hat, weiß, dass er gut begründet, warum die Politik bisher nicht hilfreich war.

Liest man die Bestsellerlisten als Plebiszit derjenigen, die noch daran glauben, dass Bücher Vehikel zur Bewältigung der Realität sind, dann spricht schon der enorme Erfolg des Buches der verstorbenen Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig („Das Ende der Geduld”) Bände. Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ sollte über den rein verkäuferischen Erfolg hinaus erkenntnisprägend sein, ob das der Kanzlerin gefällt oder nicht.

Die Suggestion seines Vortrags wird, nach dem Wort Adornos, eine Haltung des „taking something for granted“ befördern, und sei es nur die Erkenntnis, dass die Integration gescheitert ist. Sarrazin beschreibt, woran im Befund nicht zu zweifeln ist, die Ergebnisse einer katastrophalen Einwanderungs-, Familien- und Integrationspolitik. Was immer Frau Böhmer, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, an den Statistiken Sarrazins auszusetzen hat: Sie sind, was die demographische Lage des Landes angeht, keine Meinungen, sondern Fakten, und völlig korrekt. Demographische Prozesse verändern nicht nur die Dynamik einer Gesellschaft. Weil sie ihre Zusammensetzung verändern, verwandeln sie auch die Märkte, die Mode und schließlich den Bildungs- und Wertekanon einer Gesellschaft. In der Vergangenheit sind demographische Umbrüche vor allem durch Kriege oder Seuchen ausgelöst worden. Plötzlich fehlen ganze Jahrgänge, Milieus oder Klassen. Zwischen dem Abiturienten des Jahres 1915 und dem Abiturienten des Jahres 1920 liegen nicht nur soziale, sondern auch demographische Welten.

Die Bundesrepublik hat glücklicherweise keinen Krieg erlebt, aber die demographische Veränderung stellt in den Schatten, was unsere Vorfahren zu bewältigen hatten. Der Prozess hat unendlich langsam begonnen und gerät jetzt in die Phase seiner unaufhaltsamen Beschleunigung. Die Fakten sind bekannt, sie werden mittlerweile empirisch durch die Erfahrung von Entvölkerung, Parallelgesellschaften, Kinderarmut und verändertem Wahlverhalten von jedem wahrgenommen. Thilo Sarrazin gilt als Mann des offenen Wortes. Er sagt, was er denkt, sagt man. Aber er tut es nicht. Denn Thilo Sarrazin, hat ein Buch geschrieben, das durchaus sehr viele richtige und notwendige Dinge sagt. Aber es führt zu Konsequenzen, die er sich selbst nicht zu ziehen traut und sogar mit Fleiß verbirgt und die in ihrem Ergebnis manchem seiner Anhänger den Atem rauben würden. Es ist kein Zufall, dass entscheidende Begriffe, Namen und Quellen im Register nicht auftauchen, obwohl sie sich in den Fußnoten oder über Verweise rekonstruieren lassen. Das ist kein Versehen. Man sollte Sarrazin nicht unterschätzen. Er will eine völlig neue politische Debatte auslösen, die im Kern biologisch und nicht kulturell argumentiert. Dafür gibt es Vorbilder auch in der Geschichte der großen Demokratien. In den Worten von Irving Fisher aus dem Jahre 1912, der zu den Befürwortern der neuen Einwanderungsgesetzgebung in Amerika zählte: eine Einwanderungsdebatte ist immer die Chance einer eugenischen Debatte. Sarrazin spricht, wenn er von Kultur redet, nicht vom Erbe, sondern vom Erbgut, und auch das ist Bestandteil demokratischer Diskurse vor exakt hundert Jahren: „Die Gesellschaft“, so der mächtige Biologe Harry Laughlin, „muss Erbgut als etwas betrachten, das der Gesellschaft gehört und nicht allein dem einzelnen.“

Sarrazin ist ohne Zweifel ein Bildungsbürger. Das ist die Grundhaltung seines Buches, wie sie allgemein verstanden wird: die Verteidigung der eigenen oder auch der abendländischen Kultur vor der demographisch induzierten Bedrohung vor allem durch muslimische Milieus. Es gibt unzählige solcher Bücher, und ein weiteres wäre der Rede nicht wert.

Hier ist das anders. Denn mit jeder Seite, die man liest, wird klarer, dass es sich hier nicht um ein bildungsbürgerliches Traktat handelt, sondern um die Etablierung eines völlig anderen Kulturbegriffs. Es geht um die Verbindung von Erbbiologie und Kultur und damit letztlich um, ein Wort, das Sarrazin (Darwin zitierend) so unerschrocken benutzt, wie einst Gottfried Benn, „Zuchtwahl“ und „Auslese“. Sarrazin redet nicht von Goethe und Schiller, obwohl auch Dichter in seinem Buch vorkommen. Kultur ist ihm der Reflex biologischer Prozesse. Die Schichtenabhängigkeit des generativen Verhaltens in Deutschland - die Tatsache, dass immer mehr Kinder in Unterschichtenmilieus geboren werden - führt zwangsläufig zu einer Verdummung der Gesellschaft, Aufsteigerkarrieren widersprechen dem Befund nicht. Auch diese These ist keineswegs neu. Im Gegenteil: sie steckt im Kern der gesamten aufklärerischen Idee von Bildung, Schule und Erziehung. Sarrazins Botschaft ist eine andere: Bildung, von der er höhnend als „Mantra“ spricht, ist letztlich nicht in der Lage, das Vehikel des intellektuellen Aufstiegs zu werden. Genetische und ethnische Disposition begrenzen die Fähigkeiten des Individuums ebenso sehr wie die ganzer Völker.

Man muss einräumen, dass der vorgeblich so unverblümte Sarrazin sich in seinem Buch etliche Hintertüren offenlässt. Aber gerade sie sind in Wahrheit Falltüren. Ist Intelligenz erblich bedingt oder ebenso sehr von Umwelteinflüssen geprägt? Von der Beantwortung dieser Frage hängt die Hauptthese des Buches ab. In Interviews redet Sarrazin von einem Mischungsverhältnis von fünfzig bis achtzig Prozent, im Buch von sechzig Prozent, in einer Fußnote heißt es dann, eine „Erblichkeitsannahme von 80 Prozent“ sei „grundsätzlich schlüssig“. Das aber sind, was man einem Banker nicht sagen müssen sollte, enorme Unterschiede. Wenn der IQ nur zu fünfzig Prozent vom Genpool abhängt, dann besteht eine ebenso große Wahrscheinlichkeit, ihn durch Bildung zu steigern, bei achtzig Prozent ist die Wahrscheinlichkeit gleich null.

Ein Großteil der Forschung zur Vererbung von Intelligenz basiert auf der Zwillingsforschung. Zur Überzeugungskraft des Buches trägt nicht bei, dass sich Sarrazin großenteils auf die hoch kontroversen Arbeiten von Charles Murray und Richard Herrnstein („The Bell Curve“) stützt. Doch er verschweigt ihre Namen im Register und in den Anmerkungen; er geht vor allem nicht auf die Einwände gegen ihre Ergebnisse ein, die bis zum Vorwurf des Betrugs und der Desinformation reichen. So hat Eric Turkheimer durch eine Überprüfung der Befunde der „Bell Curve“ deren Ergebnisse geradezu widerlegt: Er konnte zeigen, dass bei Zwillingen in Unterschichtenmilieus die Entwicklung der genetischen Anlagen tatsächlich von den Umwelteinflüssen abhängig war.

Stephen Jay Gould hat angesichts der Vererbungsthesen von Murray und Herrnstein, auf die Sarrazin sich beruft, darauf hingewiesen, dass die Tests nur spezifische Formen von Intelligenz testen und deshalb ein völlig falsches Bild von Begabungsprofilen liefern. Die Debatte ist unentschieden, und die Frage, ob Intelligenz größtenteils vererbt wird oder kulturell geschaffen werden kann, ist eine der völlig offenen Fragen. Sarrazin aber hält sie für beantwortet.

Sarrazin argumentiert aus einer Position der Verzweiflung heraus. Die demographischen Prozesse sind so träge, dass die Transformation unserer Gesellschaft nicht aufzuhalten ist. Und er hat recht damit, dass eine verfehlte Einwanderungspolitik Deutschland gleichsam ein Mittelalter importierte, das die Stabilität des Gemeinwesens in Frage stellen kann - umso mehr, als Politik zunehmend unfähig ist, das Problem zu adressieren. Aber er will Lösungen. Da er, der die Kultur verteidigen will, in Wahrheit selbst nicht mehr an ihre bindende und verbindliche Kraft glaubt, geschieht das, was grundsätzlich geschieht, wenn Gesellschaften um ihre Identität fürchten und ihren eigenen Werten misstrauen: die Flucht in den Biologismus. Es ist erstaunlich, in einem Kapitel über die moderne Arbeitswelt folgende Sätze zu lesen: „Jeder Hunde- und Pferdezüchter lebt davon, dass es große Unterschiede im Temperament und Begabungsprofil der Tiere gibt und dass diese Unterschiede erblich sind. Das heißt auch, dass manche Tiere schlichtweg dümmer oder wesentlich intelligenter sind als vergleichbare Tiere ihrer Rasse. Francis Galton war der Erste, der sich mit der Entwicklung und Vererbung menschlicher Intelligenz befasst hat. Er war der Vater der frühen Intelligenzforschung.“

Galton, so muss man hinzufügen, was Sarrazin hinzuzufügen vergisst, war vor allem der Vater der modernen Eugenik. Und auch das ist eine der Hintertüren, die Sarrazin sich offenlässt: ein Buch, das faktisch für eine eugenische Demographie plädiert, hätte den Begriff verhandeln und im Sachregister aufnehmen müssen, statt ihn verschämt als Adjektiv im Strom der Gedanken untergehen zu lassen. Das Gleiche gilt für einen anderen Schlüsselbegriff, der nie auftaucht, aber faktisch in allen Details inklusive der wissenschaftlichen Literatur beschrieben wird. Sarrazin beschreibt den demographischen Zustand des Landes klinisch als das, was man früher „Degeneration“ nannte. Bénédict Morel hatte in den fünfziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts die Vorstellung einer pathologischen Eskalation in der Generationenfolge entwickelt, an deren Ende Idiotie, Sterilität und der Untergang der betroffenen Sippe standen. Sarrazin nimmt dies auf und wendet es auf die Zunahme von Erbkrankheiten in muslimischen Milieus in Deutschland an, die, wie er freilich nicht zuverlässig belegt, durch den Inzest in den Familienverbänden entstehe.

Ist er deshalb, wie manche behaupten, ein Rassist? Gewiss nicht, denn in Wahrheit bezieht er sich, ohne auch das deutlich zu machen, auf die große Einwanderungs- und Intelligenzdebatte, die vor fast genau hundert Jahren in den Vereinigten Staaten stattfand und dort zu einer Gesetzgebung führte, die bis 1965 in Kraft blieb. Wer nachliest, was damals unter dem Eindruck der Zuwanderungsströme im Ersten Weltkrieg in Amerika diskutiert wurde, befindet sich mitten in der Sarrazin-Diskussion. Die Zukunft des Landes war in Gefahr, die Intelligenz verkümmerte, Ethnien wurden analysiert und selektiert. Am schlimmsten waren die Japaner und die Süditaliener. „Nein, wir arbeiten nicht“, heißt es etwa in einem der einflussreichsten Werke der damaligen Zeit („The Old World in the New“) über die Italiener. „Wir haben andere, die für uns arbeiten. Es sind diese Parasiten, die die meisten Verbrechen begehen.“ Sie verlassen die Schule bei der ersten Gelegenheit, sie können nicht lesen und nicht schreiben, sind schlecht in Mathematik, und „ihnen fehlt die Fähigkeit zu denken“.

Es hat sich gezeigt, dass Bildung und der Glaube an die eigene Kultur die Integration dieser Gruppen nach 1965 viel mehr beschleunigte als jede Form eugenischer Politik.

Und dieses Beispiel ist auch die Antwort an Sarrazin. Er hat recht in vielem. Aber seine Antwort ist so radikal, dass sie vor muslimischen Milieus nicht haltmachen wird. Sie betrifft alle, das sollten seine Anhänger wissen. Es ist ein Symptom, dass eine demographisch verwundete Gesellschaft ihren Ausweg in der Biologie sucht. Es ist ein fataler Irrweg. Sarrazins Intelligenzmodell kennt keine spontanen Ausbrüche an Begabung und Talent. Er kann nicht erklären, wieso viele große geistige Leistungen der letzten Jahrhunderte aus bildungsferneren Schichten stammten. Dabei wäre dies der Impuls, mit dem man auch die muslimischen Milieus aufwecken könnte. Bildung und das Vermögen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, hat Menschen aus dem gesellschaftlichen Nichts zu den großen Bewegern gemacht, ganz gleich, wer ihre Eltern waren. Es stimmt nicht, dass, wie Frau Merkel meint, Sarrazins Buch nicht „hilfreich“ ist. Es war sehr hilfreich und hat einen Wendepunkt markiert. Es ist immer noch hilfreich, um wirklich zu verstehen, was auf dem Spiel steht.

13-05-2019

@Frank
Dank für den engagierten Beitrag, den ich in den zitierten Kenntnissen nicht verfolgen will: So, wie Sie argumentieren, klingt vieles schlüssig und, wie es scheint, von Sachkenntnis gestützt (die mir fehlt). Ich vermute aber, dass ich Ihren Überlegungen sehr nahe käme, würde ich mich intensiver damit befassen.

Es geht mir aber nicht um Sarrazin. Er ist mir Beispiel für die Verkürzung der Auseinandersetzung (weg von der Argumentation – wie Sie sie detailreich diskutieren) AUF die Person. Ich rede über Öffentlichkeit und Diskurs, nicht (in diesem Fall nicht) über die Thesen des Thilo S., auch dann nicht, wenn ich eine beispielhafte These (wie Sie gezeigt haben: sehr durch mangelnde Kenntnis verkürzt) wiedergebe.

Möglicherweise ist das ein Hinweis, der auch Ihre Überlegungen erweitern könnte: Eine der Thesen, die ich seit langem verfolge, ohne schlussfinalgültigbeweisfähig zu einem Urteil gelangt zu sein, eher zu einem Vorurteil, ist, dass die Verdummung der Gesellschaft, die nach Thilo S. bio-kulturell verursacht sei, mindestens zu einem nennenswerten Anteil auch von den Diskursformen (der Öffentlichkeit) getrieben wird – von mangelhaftem Denken.